„Postapokalyptisch“ ist das Adjektiv, das die Stimmung in Beirut am besten beschreibt. Auch knapp anderthalb Jahre nach der gewaltigen Explosion im Hafen der libanesischen Hauptstadt. Sie ereignete sich am 4. August 2020 um 18.08 Uhr Ortszeit. Damals flogen zunächst Feuerwerkskörper und anschließend 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft. Die Explosion kostete mehr als zweihundert Menschen das Leben und mehr als 6.500 wurden verletzt. Mehr als 300.000 Menschen mussten außerdem ihre Häuser verlassen. Das Hotel in Hafennähe, in dem mein Kollege Mario bei seinem letzten Besuch im Libanon abgestiegen ist, gibt es nicht mehr. Es steht dort nur noch eine Ruine.
Eine Ruine ist auch das „Ei“ genannte Bauwerk in der Stadtmitte, das von Joseph Philippe Karam als Kino- und Bürogebäude entworfen, aber wegen des Bürgerkrieges, der von 1975 bis 1990 im Libanon tobte, nie fertiggestellt wurde. Als wir uns die zum Mahnmal umgewidmete Bauruine ansehen, begegnen wir einer Gruppe Jugendlicher, die hier Calisthenics machen. Mittlerweile ist es, obgleich erst später Nachmittag, stockfinster. Lichter sieht man in den Wohnungen nicht brennen, aber dafür leuchten die Sterne am Himmel über der Millionenmetropole. Strom gibt es in Beirut nur für zwei Stunden am Tag. Überall laufen deshalb Generatoren, mit deren Hilfe Geschäfte und Hotels ihren täglichen Strombedarf decken, doch selbst in unserem Drei-Sterne-Hotel wird der Strom jeden Tag für sechs Stunden abgestellt. Da das Schienennetz des Libanon im Bürgerkrieg zerstört wurde, ist jeder Libanese auf sein Auto oder auf Taxis angewiesen, aber auch die Spritpreise steigen in dem Land, das gerade eine Hyperinflation erlebt. Libanesische Lire sind praktisch nichts mehr wert. Cocktails oder Longdrinks kosten um die 100.000 Lire, für eine Tankfüllung werden umgerechnet fünfundzwanzig Dollar fällig. Knapp die Hälfte eines anständigen Monatslohns. Trotzdem erfüllt nicht nur im Stadtkern penetranter Benzingestank die Luft, sodass man im Freien nach kürzester Zeit Kopfschmerzen bekommt.
Vom „Ei“ aus lassen sich in der Dämmerung noch die im Jahr 2008 eingeweihte Muhammad-Al-Amin-Moschee und der neben ihr befindliche Märtyrerplatz ausmachen. Der Platz war Teil der Demarkationslinie, die die Stadt im Bürgerkrieg teilte. Die von dem italienischen Bildhauer Marino Mazzacurati geschaffenen Skulpturen in der Mitte des Platzes sind durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Einer Statue wurde im Bürgerkrieg sogar der linke Arm weggerissen. Unser Freund Nassib hat hier als christlicher Milizionär gekämpft. Dem Phalangisten fehlt ebenfalls eine Gliedmaße. Er hat sein rechtes Bein verloren und trägt eine in Deutschland gefertigte Prothese. Das Projektil, das ihm bei einer früheren Gelegenheit durch den Rücken in den Bauch eingedrungen ist, wurde nie entfernt. Noch heute piepst es daher, wenn er am Flughafen durch die Sicherheitskontrolle geht. Nassib holt uns am nächsten Tag mit einem weißen SUV der Marke Toyota vor unserem Hotel ab. Er möchte uns den von der Hisbollah dominierten Süden Beiruts zeigen, denn im Gegensatz zu den Libanesischen Kräften stehen die Phalangisten auf gutem Fuß mit der schiitischen Miliz. Hisbollah bedeutet „Partei Gottes“.
Plötzlich tritt Nassib auf die Bremse, zeigt nach links und rechts: „Hier wurde letzten Monat geschossen.“ Dann geht es an zwei Checkpoints der Hisbollah vorbei. Man kennt Nassib. Wir werden anstandslos durchgewinkt. Er fährt mit uns zu zwei Friedhöfen, auf denen Hisbollah-Kämpfer ihre letzte Ruhe gefunden haben. Auf dem ersten Friedhof liegen hundertdreiundzwanzig dieser von den schiitischen Bewohnern des Viertels unterschiedslos als Märtyrer bezeichneten Toten. Auf dem zweiten Friedhof liegen auch die wenige Wochen zuvor bei einer aus dem Ruder gelaufenen Demonstration erschossenen Muslime: sechs Männer und eine Frau. Für eines der Opfer wird gerade eine Totenwache abgehalten. Fünf oder sechs junge Männer mit Bart sitzen auf Plastikstühlen um das Grab, auf dem neben dem in den Grabstein eingelassenen Porträt ein weiteres Bild steht und eine Kerze brennt. Freunde des Toten seien sie gewesen, versichern sie uns, nachdem Nassib Mario und mich auf Arabisch vorgestellt hat. Sind sie anfangs noch reserviert, werden sie geradezu enthusiastisch, als sie erfahren, dass wir aus Deutschland kommen. Einer der Männer, er heißt Mohammed, ruft begeistert: „Yes, yes, Hitler!“ Hussein, der neben ihm steht, pflichtet ihm bei: „We respect Hitler because he killed all the Jews.“ Mohammed, dem meine versteinerte Miene nicht entgangen ist, sieht mich prüfend an und fragt: „You like Hitler?“ Ich verneine die Frage. Trotzdem bieten sie Mario und mir Bananen an.
Einer der Jungs ist auf der Demonstration dabei gewesen. Ehrfürchtig begrüßen die jugendlichen Heißsporne einen Mann mittleren Alters, der angeblich zehn Israelis getötet hat. Im Gefecht. Ein etwa 30-Jähriger, der sich später zu der Gruppe gesellt, ist laut Mohammed und Hussein ebenfalls ein Held. Er habe Sturmgewehre organisiert, nachdem die Demonstranten von Angehörigen der Libanesischen Kräfte mit gezieltem Feuer unter Beschuss genommen worden seien. „Ladroni!“, also „Räuber!“, schimpft Nassib, der schon lange nicht nur im Libanon, sondern auch in Italien zuhause ist. Es sei alles eine Verschwörung gewesen. Eine Verschwörung zwischen den Libanesischen Kräften und der Amal-Bewegung, um das Land erneut in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Die Drahtzieher dahinter? Amerika, Saudi-Arabien und natürlich Israel. Da ist sich der einbeinige Veteran ganz sicher.
Als wir uns schon verabschieden wollen, taucht plötzlich ein junger Mann auf, der sich als der 19-jährige Sohn der getöteten Mariam entpuppt. Sie sei das einzige Opfer gewesen, das sich gar nicht im Demonstrationszug befunden habe. Die 42-Jährige habe auf ihrem Balkon gestanden, als das Projektil des Dragunow-Scharfschützengewehrs sie getroffen habe. Wir sprechen dem jungen Mann unser tiefempfundenes Mitgefühl aus und Mario lichtet ihn mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis am Grab seiner Mutter ab. Als Mario eine Woche später wieder im Flieger nach Deutschland sitzt, treffe ich mich in dem christlichen Stadtviertel Aschrafiyya noch mit dem Auslandspressesprecher der Libanesischen Kräfte in einem Café, vor dem gerade ein kitschiger Weihnachtsbaum mit Engelsflügeln errichtet wird. Er betont, die Libanesischen Kräfte wollten einen erneuten Bürgerkrieg um jeden Preis verhindern. Es sei vielmehr die Hisbollah, die auf Konfrontation aus sei und stetig an der Eskalationsschraube drehe. Sie sei verantwortlich für die Explosion im Hafen von Beirut und für die Wirtschaftskrise im Land. Von ihrer Schuld versuche sie nun abzulenken, indem sie die Gesellschaft entlang religiös-konfessioneller Bruchlinien spalte. Das sei das Mindset des Bürgerkriegs. Es hätten Sprachnachrichten von hochrangigen Offizieren der Hisbollah die Runde gemacht, die angeblich belegen, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung mit christlichen Anwohnern und Sicherheitskräften im Vorfeld der Demonstration billigend in Kauf genommen wurde oder sogar erwünscht gewesen sei. Immerhin seien die Anhänger der Hisbollah und der Amal-Bewegung mit Kalaschnikows und RPGs aufmarschiert und hätten ehrverletzende Parolen skandiert. Auch habe es vor der Schießerei ein Handgemenge gegeben, das von den Demonstrationsteilnehmern initiiert gewesen sei. Mit Blick auf Mariam spricht er von „friendly fire“ als der wahrscheinlichsten Ursache für ihren Tod. Die Behauptung, es habe Scharfschützen gegeben, wird auch vom Militär als falsch zurückgewiesen.
Ebenfalls der Hisbollah geben die sunnitischen Bewohner Tripolis und seiner Vororte die Schuld an der Krise. Viele von ihnen sympathisieren offen mit dem IS. Im ganzen Land errichten verzweifelte Libanesen montags Straßensperren und bleiben der Arbeit fern. Ein großer Teil dieser Menschen hat aber ohnehin keine Arbeit. In Tripoli stapelt sich der Abfall links und rechts der Fahrbahn, und es stinkt gottserbärmlich. Das Flussbett gleicht einer Müllhalde. Optimale Bedingungen für die Ausbreitung von Seuchen. Unser Taxifahrer Mansour, der mehrere Jahre in der Bundesrepublik gelebt hat und ein wenig Deutsch spricht, bringt uns zu den Straßensperren, die wütende Sunniten in und um Tripoli aus Autoreifen errichtet haben. Lange bevor das Militär anrückt, um die brennenden Autoreifen mit Schürhaken von der Fahrbahn in den Straßengraben zu ziehen, sind wir vor Ort und sprechen mit den aufgebrachten Eiferern. Immer wieder rufen sie: „Allah ist groß!“ oder „Nieder mit der Hisbollah!“. Und sie recken den Zeigefinger zum Himmel, die berüchtigte Geste des IS. Ursprünglich war der gen Himmel erhobene Zeigefinger nur ein Bekenntnis zum Monotheismus. Seine Bedeutung: „Es gibt nur einen Gott“. Salafistische Gotteskrieger drücken mit der Geste indes auch ihre Unduldsamkeit gegenüber anderen Islaminterpretationen aus.
Mit Mansour geht es auch in die zwischen dem Libanongebirge und dem Anti-Libanon gelegene Bekaa-Ebene. Es ist der wilde Osten des Landes, in dem neben der Hisbollah vor allem kriminelle Clans das Sagen haben. Unser Ziel: Baalbek, das nicht nur für seine gewaltigen Tempelanlagen, sondern auch als Zentrum der Drogenproduktion im Libanon bekannt ist. Mansour kennt jemanden, für den wir uns interessieren könnten. Er hat früher häufig Touristen von Beirut nach Baalbek kutschiert, denn die zwischen 1900 und 1905 auf Wunsch Kaiser Wilhelms II. ausgegrabenen Tempelanlagen brauchen den Vergleich mit antiken Städten wie Palmyra oder Gerasa nicht zu scheuen. Das war vor der Krise. An einer Tankstelle halten wir an. Ein junger, schmächtiger Mann steigt zu, den Mansour uns als seinen Freund Ali vorstellt. Ali hat früher an der Tankstelle gearbeitet, jetzt handelt er mit Drogen und Kriegsgerät. Im Vorbeifahren deutet er auf die Villen der Mafiabosse und verrät uns die Familiennamen der Clans. Zu einem gehört er selbst. Als wir an frisch abgeernteten Hanfplantagen vorüberkommen, schärft Mansour uns ein, die geknipsten Bilder sofort zu löschen, sollten wir angehalten werden. Er fährt sich mit dem Daumen über den Hals und sagt: „Sonst schneiden.“ Ohne einen ortskundigen Kontaktmann wie Ali würde er uns nicht einmal für tausend Dollar hierhergebracht haben. Auch nicht für zweitausend Dollar. Ali wohnt mit seinem Vater und seinen Geschwistern in einer kleinen, von baufälligen Gebäuden eingerahmten Villa. Eine Frau hat er noch nicht. Auch seine Brüder stehen offenbar auf den Gehaltslisten der Drogenbarone, doch es scheint im Haus auch Eigenbedarf zu geben. Mansour hätte sich beim Platznehmen um ein Haar in eine Heroinspritze gesetzt.
Ali und seine Brüder breiten ein paar Haschischsorten vor uns aus. Auch Kokain und Tabletten befinden sich im Sortiment. Mario wiegt einen Brocken in der Hand und fragt: „Roter Libanese?“ Die Männer nicken. Aus einer Kiste ziehen sie außerdem eine Handvoll Patronen des Kalibers .50 und platzieren sie auf dem kleinen Wohnzimmertisch, hinter den sich der junge Mafioso gehockt hat. Solche Geschosse habe ich zuletzt bei der Armee zu Gesicht bekommen. Ali lehnt sich auf seinem Divan zurück und zündet sich einen Dübel an. Fünfzehn Dollar möchte er für eine Patrone, aber wir sind natürlich nicht in die Bekaa-Ebene gekommen, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Der Handel mit Waffen sei Alis Hobby, scherzt einer seiner Brüder. Stolz präsentiert der uns Handy-Bilder aus seinem Depot, in dem sich an die zehn Kalaschnikows aneinanderreihen. Auch im Angebot: Granatwerfer, RPGs aus sowjetischen Beständen und sogar ein kleiner Mörser. Die Waffen sind zwei Tage vorher an einen anderen Ort gebracht worden, weil Ali einen Hinweis erhalten hat, dass die Polizei das Haus durchsuchen werde. Mario und ich sind etwas enttäuscht. Als hätte er unsere Gedanken gelesen, telefoniert Ali kurz auf Arabisch, und wenige Minuten später betritt ein junger, bärtiger Mann das Zimmer, der einen schwarzen Koffer trägt. Er ist ebenso schmächtig wie Ali und hat zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand ein Sturmgewehr tätowiert. Aus dem Koffer zieht er eine AK 47 und steckt ein volles Magazin hinein. Für einen kleinen Augenblick wird es mir flau im Magen, aber er lädt die Waffe nicht durch. Das Schießeisen wandert von Hand zu Hand. In diesem Moment betritt Alis verschleierte Schwester das Zimmer. Sie trägt ein Tablett, auf dem mit Rosenblüten bemalte Kaffeetässchen stehen. Nachdem sie uns wortlos den Kaffee kredenzt hat, verschwindet sie wieder. Beobachtet wird die skurrile Szene von einem großen, braunen Teddy-Bären.
Was bleibt? Ein Land fast ohne Strom, fast ohne Recht und Ordnung, fast ohne Hoffnung. Die Lage im Libanon ist so verfahren, dass manche Libanesen sich die alten Kolonisten zurückwünschen. Eine Sunnitin, mit der ich im Stadtviertel Hamra eine Wasserpfeife rauche, rät mir, einmal die Probe zu machen und jeden Libanesen, der mir begegne, zu fragen, ob es unter den Franzosen besser gewesen sei. Von ihrer Großmutter wisse sie, dass vor der Unabhängigkeit des Libanon Zucht und Ordnung im Land geherrscht hätten. Außerdem sei es sauber gewesen und es habe ein funktionierendes Schienennetz und eine stabile Währung gegeben. Der Auslandspressesprecher der Libanesischen Kräfte blickt hingegen optimistisch in die Zukunft. Seine Partei werde die nächste Wahl gewinnen und dann werde man der korrupten Hisbollah das Handwerk legen. Dass sich die Hisbollah das gefallen lassen wird, bezweifle ich …
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