Eine Handvoll Personen aus aller Herren Länder sitzen um den kleinen Tisch einer rustikal eingerichteten Bauernstube im Schwabenländle, über deren Eingang ein Wandteller mit der Aufschrift „Unser täglich Brot gib uns heute“ prangt. Da ist ein alter Pole, der gerade seine tägliche Dose Wurst verspeist. Da ist Sandro, ein Koch aus Sachsen, der die letzen vier Jahre als Wanderarbeiter keine Miete bezahlt hat und sich eigentlich in diesen Tagen auf Sylt eine goldene Nase verdienen wollte. Doch dann kam Corona, sodass er nun mit uns als Spargelstecher den Rücken krumm machen muss. Da ist Sorin, ein alter Rumäne, der nach der Wende in die Bundesrepublik gekommen ist und sich vom Tellerwäscher zum Oberkellner hochgearbeitet hat, ehe er sich infolge der Hysterie um das Wuhan-Virus nun zum Erntehelfer degradiert sieht. Er hat ein Kreuz wie ein Schrank und seine Geschichten aus Tellerwäscherzeiten erinnern frappierend an die Erlebnisse, die George Orwell in seinem autobiografischen Buch Down and Out in Paris and London schildert.
Der berühmte Schriftsteller hatte nach seinem Dienst bei der Indian Imperial Police in Burma einige Jahre in größter Armut verbracht. Wenn man den Koch und den Kellner miteinander reden hört, könnte man meinen, in der Gastronomie habe sich seit neunzig Jahren nichts, aber auch gar nichts verändert und der ungehobelte Ton sowie das aggressive Gezänk bis hin zu Tätlichkeiten seien nach wie vor an der Tagesordnung. Natürlich klopft man sich, wie schon zu Orwells Zeiten, nach Feierabend auf die Schultern und trinkt ein Bier zusammen – manchmal auch einen Kasten. Der alte Rumäne ist stolz darauf, noch nicht für einen einzigen Tag Arbeitslosengeld beantragt zu haben und ärgert sich über die Zigeuner, die in Deutschland dem „Gewerbe“ des Taschendiebstahls nachgingen und sich, wenn sie erwischt würden, als Rumänen ausgäben. Er schüttelt missbilligend den Kopf. Dann sagt er lachend: „Arbeit macht frei.“ Wie oft habe ich diese zu Recht kontaminierten Worte schon von hart arbeitenden Zeitgenossen ohne Hochschulabschluss vernommen! Da ist es kein Wunder, dass unsere linke Intelligenzija den einheimischen und selbst den ost- oder südosteuropäischen Arbeiter mittlerweile als hoffnungslos reaktionär verabscheut und ihre Zuflucht zu ausgewählten ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten nimmt.
Da sind außerdem zwei „Portugiesen“ und zwei „Rumänen“, wobei es sich je nach Definition weder um Portugiesen noch um Rumänen handelt. Ricardo kommt aus Brasilien, Tiago von den Azoren mitten im Atlantik. Tiago spricht fortwährend von gutem Essen. Er rezitiert die Rezepte aus dem Gedächtnis und beschreibt minutiös, wie er die Mahlzeiten zubereitet, von denen gerade die Rede ist. Ich höre höflichkeitshalber scheinbar interessiert zu, ergreife aber stets bei der ersten sich mir bietenden Gelegenheit die Flucht. Die beiden Rumänen sind ungarischsprachige Szekler. Ihre Heimatregion Harghita in Siebenbürgen habe ich bereist, als ich als Austauschstudent für zwei Semester in Rumänien gelebt habe. „Fritzi“, der mit seinen weißblonden Haaren eher aussieht wie ein Friese oder Schwede, spricht im Gegensatz zu seinem ehemaligen Klassenkameraden Elemér ein wenig Deutsch, aber unsere Lingua franca bleibt für die kommenden drei Wochen dennoch das Rumänische. Zuweilen verständigen wir uns auch in einem Kauderwelsch aus Deutsch und Rumänisch, wobei die beiden jungen Szekler immer vor Freude strahlen, wenn ich ein ungarisches Wort wie köszönöm (danke) einstreue. Sie sind wie fast alle Magyaren glühende Patrioten. Fritzi zeigt mir ein Video, in dem Ungarn zur Zeit seiner größten territorialen Expansion auf einer Karte zu sehen ist, Nagy-Magyarország (Großungarn), und beklagt dessen Verstümmelung infolge des 1920 geschlossenen Vertrags von Trianon. Im Gegensatz zu „Großdeutschland“ wird „Großungarn“ heute als kollektive Erinnerung nostalgisch gepflegt, was die Beziehungen zwischen Ungarn und dessen Anrainerstaaten immer wieder belastet. Fritzi und Elemér sind trotz allem Nationalismus keine Chauvinisten, denn als nach knapp zwei Wochen doch eine Gruppe rumänischer Erntehelfer einfliegen darf, vermag es der Landwirt kaum zu verhindern, dass Fritzi und der Vorarbeiter der rumänischen Abteilung sich herzlich umarmen. Sie hatten in der Vergangenheit schon einmal zusammen gearbeitet. „Halt, stopp! Auch kein Handschlag!“, ruft der Bauer geistesgegenwärtig, denn die Rumänen sind eigentlich für vierzehn Tage in Quarantäne. Sie ernten andere Spargelfelder ab als wir und sind auch in einem anderen Haus untergebracht.
Unsere Unterkunft ist keinesfalls luxuriös, aber weit besser als erwartet. Es gibt warmes Wasser, Kochmöglichkeiten, Kühlschränke und Geschirr. Mit den Stockbetten hat das alles etwas von Landschulheimatmosphäre. Es ist sogar ein Gemeinschaftsraum mit Fernseher vorhanden, von dem wir allerdings in den nächsten Wochen kaum je Gebrauch machen werden. Stattdessen sitzen wir nach der Arbeit meist vor dem Haus, wo geraucht werden darf, und hören Musik. Getrunken wird viel. Insbesondere den sächsischen Koch findet man zuverlässig zu jeder Zeit nach Feierabend Zigaretten drehend vor dem Eingang unserer Behausung auf einem wackeligen Stuhl sitzend – in der Regel mit Strohhut und entblößtem Oberkörper. Der Koch sieht mit seinem gezwirbelten Bart nicht nur so aus wie ein Wikinger, sondern benimmt sich auch wie einer. Er ist ein mürrischer Geselle, der gerne aus Prinzip widerspricht und immer das letzte Wort haben muss. Als wir bei einem Lied von Creedence Clearwater Revival mitsingen, frotzelt er: „’S gibt sö viele Töne. Warum triffst denn nüscht mal een?“ Ich bin immer noch der Meinung, er sei es gewesen, der schief gesungen habe. Ein anderes Mal brummt er, es sei zum Kotzen, als einziger in der Küche Deutsch zu verstehen und fügt dann hinzu, dass man das ja nicht sagen dürfe, weil man sonst gleich in die rechte Ecke gestellt werde – zumal als Ossi. Den Nachschub betont er besonders. Selbst ihn werde ich am Ende ins Herz geschlossen haben.
Die Arbeit auf dem Acker lässt sich gut an, wenn auch bereits nach ein oder zwei Tagen Schwielen an den Händen auftreten. Dazu gesellen sich später Blasen an den falsch beschuhten Füßen. Alle Unbill ist jedoch in der Hauptsache darauf zurückzuführen, dass der Boden feucht war, als der Spargel gepflanzt wurde. Infolgedessen ist er nun uneben wie eine Kraterlandschaft, aber zugleich hart wie Stahlbeton. Die Blechstangen, die es an den ersten Tagen der Ernte herauszuziehen gilt, damit die Folie aufgedeckt werden kann, unter der das grüne Gold – denn es handelt sich durchweg um Grünspargel – sprießt, lassen sich teilweise nur unter großer Kraftanstrengung dem Erdreich entreißen. Sie werden zu Bündeln zu je fünfzig Stäben geschnürt. Als diese Arbeit getan ist, heißt es nur noch aufdecken, schneiden, abdecken, aufdecken, schneiden, abdecken – Hektar für Hektar, Feld für Feld. Ich decke die mit Sand beschwerte transparente Folie lieber auf und zu, als den Spargel zu schneiden, wobei die Zeit beim Schneiden schneller vergeht. Zugedeckt werden die Dämme ohne Werkzeug, während man sich beim Aufdecken der Folie eines Schaufelstiels bedient. Mit der Zeit kommen zu den abgedeckten Äckern noch einige Felder ohne Folie hinzu, die allerdings frisch gefräst wurden, was nicht nur die Arbeit der Erntehelfer wesentlich erleichtert, sondern auch die Arbeit des Spargels, der sich nun nicht mehr durch das bockelharte Erdreich quetschen muss, um sich an der Sonne zu grünen.
Ein lockerer Boden bedeutet aber nicht nur eine Arbeitserleichterung für Spargel und Stecher, sondern auch zugleich eine Qualitätssteigerung. Muss der Spargel sich seinen Weg nämlich durch einen harten Boden bahnen, wird er nicht selten krumm wie eine Banane und ist dann nur noch Gemüse zweiter Klasse. Welcher Klasse ein Spargel angehört, das entscheidet die Mannschaft an der Sortiermaschine. Hier stehe ich in den ersten Tagen oft nach der Feldarbeit mit Stania, einer alten Polin, die schon zum Inventar des Gehöfts gehört. Seit über anderthalb Jahrzehnten arbeitet sie bereits auf dem Spargelhof, doch ihr deutsches Vokabular beschränkt sich im Wesentlichen auf „nij gut“ und „Kischta“. Ersteres Wort gebraucht sie, wenn sie einen verblühten oder erfrorenen Spargel aussortiert, nach einer Kiste ruft sie, wenn wir eine solche bis an den Rand mit Spargel befüllt haben. Ihr rundliches Gesicht strahlt immer wie der Sonnenschein und es macht überhaupt nichts, dass man sie nicht versteht, wenn sie einem etwas auf Polnisch erzählt. Sie ist für den dicken Spargel erster und zweiter Klasse zuständig, ich für den dünnen Spargel erster Klasse, den sogenannten Suppenspargel und die abgebrochenen Spargelköpfe. An der Sortiermaschine kommt man leicht ins Schwitzen, wenn vier Leute gleichzeitig Spargel auf das Förderband auflegen. Man muss in Sekundenbruchteilen entscheiden, welcher Spargel in welche Kiste gehört. Mehr als einmal greift mir Stania mit einer Handvoll Spargel unter die Arme, sonst hätte es womöglich eine „Katastropha“ gegeben – eine weitere Vokabel aus ihrem deutschen Wortschatz. Oder sie meint einfach katastrofa, was auf Polnisch dasselbe bedeutet, da es sich in beiden Fällen um eine Entlehnung aus dem Altgriechischen handelt und das Wort ursprünglich den Wendepunkt in einer Tragödienhandlung hin zum Schlechten bezeichnet. Auch wenn Stania stets lacht, wenn sie katastrofa sagt, bin ich froh, dass das Unglück doch immer noch rechtzeitig abgewendet werden kann. Im Anschluss an das Sortieren wird gewogen und verpackt.
Einmal bin ich beim Ausliefern des Spargels dabei und fühle mich wie in der Fahrprüfung. Im Lieferwagen stapeln sich die Spargelkisten und bei jeder Kurve ist höchste Vorsicht geboten. Lieber zu langsam als zu schnell, lautet die Devise. Der Hof ist seit mehreren Generationen im Familienbesitz und sowohl der Vater als auch die Mutter des jetzigen Landwirts rühren ihre Hände von früh bis spät. Mit dem Vater bin ich zur Ausfuhr der grünen Ware unterwegs und die Gespräche mit anderen Obst- und Gemüsebauern kreisen um zwei Themen: den Frost und die Inkompetenz der Bundesregierung. Ersterer hat etwa achtzig Prozent der Blüten anfälliger Apfelbäume wie des Boskop vernichtet, was allerdings keine Katastrophe bedeutet, da ein großer Teil der Blüten ohnehin keine Frucht ausbilden soll. Letztere bringt die Landwirte und Marktfrauen jedoch an den Rand der Verzweiflung. Eine von ihnen klagt: „Ich habe nicht die nötigen Mittel, um meine Leute mit dem Flugzeug zu holen.“ Der vom Bundesinnenministerium verhängte Einreisestopp für Saisonarbeiter bewirkt das genaue Gegenteil von dem, was er bewirken soll. Das liegt für jeden Menschen, für den Logik kein Buch mit sieben Siegeln ist, auf der Hand. Eine Gruppe von fünfzig Rumänen bleibt in der Regel unter sich. Die rumänischen Spargelstecher gehen nach der Arbeit duschen, telefonieren mit ihren Familien und schlafen dann auf dem Bauernhof oder in einem Wohncontainer. Vielleicht trinken sie vor dem Zubettgehen noch eine Flasche Țuică zusammen, um sich von innen zu desinfizieren, aber es ist sicher selten vorgekommen, dass eine größere Gruppe rumänischer Erntehelfer die nächste Dorfdisko gestürmt hätte. Es ist ein unumstößliches Faktum, dass der Infektionsdruck steigt, wenn ständig neue Erntehelfer kommen, die dann nur für wenige Tage bleiben.
Von der starken Fluktuation der Arbeitskräfte kann zu jener Zeit sicher jeder Spargelbauer ein Lied singen. Unsere Gruppe, die ich nach anderthalb Wochen von einem Festangestellten übernehme und die im Kern aus den oben genannten Personen besteht, erweitert sich im Laufe der Zeit noch um einen deutschstämmigen Südafrikaner, dessen Rückflug nach Kapstadt gecancelt worden ist, einen Globetrotter, der gerade dabei ist, sein Haus zu verkaufen, vier Ukrainer, die als Fleischer und in der Gastronomie gearbeitet haben, zwei Rumänen, eine Ungarin, eine deutsche Friseuse, zwei Zehntklässlerinnen, einen Studenten und eine Abiturientin. Ab der zweiten Woche ist auch mein guter Freund Benjamin mit von der Partie. Ein alter Grieche wirft schon nach einem halben Tag das Handtuch. Auch der Einsatz von vier sogenannten Flüchtlingen, einem mutmaßlichen Syrer, einem Tschetschenen und zwei Schwarzafrikanern aus Gambia bleibt Episode. Als ich unserem alten Polen beim Spargelschneiden an einem Hang entgegenkomme, deutet er mit dem Kopf in Richtung der beiden Schwarzen, die ein oder zwei Reihen unter uns lustlos dahinschlurfen, und sagt lachend: „Chef kaufen diese Leute auf Flohmarkt. Zweite Klasse.“ Dass er mit seiner Klassifizierung Recht behalten soll, zeigt sich schon am Folgetag, als keine der vier Personen mehr zur Arbeit erscheint. Es wäre ihr dritter Arbeitstag gewesen!
Bereits am Vortag hatte der Syrer Stunk gemacht, als ihm klar geworden war, dass er für das Arbeiten an einem Feiertag in der Landwirtschaft genauso viel Geld bekommen würde wie an jedem anderen Tag. Der Spargel hört ja nicht auf zu wachsen, weil die Kirchenglocken läuten. Der Tschetschene mit Salafistenbart hatte morgens über Schmerzen in der Schulter geklagt und war deshalb nicht mehr gekommen, die Schwarzen fehlen unentschuldigt. Schmerzen in der Schulter? Muskelkater vom Auf- und Zudecken der Folie wird wohl jeder von uns am zweiten Tag gehabt haben. Welchen Kontrast bildet dazu unser alter Pole, bilden dazu unsere Zehntklässlerinnen Mia und Anna-Lena!
Als Benjamin und ich am 18. April unser Zimmer räumen, fällt der Abschied schwer. Jeden unserer zeitweiligen Hausgenossen umarmen wir – trotz Covid-19. Es gibt niemanden, mit dem zusammen wir nicht wieder malochen würden, aber insbesondere Fritzi und Nicolai, einen der Ukrainer, werden wir vermissen. Nicolai ist Ende zwanzig. Er hat in der Ukraine im Bergbau untertage gearbeitet und dabei mit einem Lämpchen alle Werke Friedrich Nietzsches gelesen. Darüber hinaus hat er sich mit Dostojewski, Carl Schmitt, Ernst Jünger und sogar mit Martin Heidegger befasst! Sein Nahziel ist es, Sein und Zeit auf Deutsch zu lesen und zu verstehen. Wir saßen in Kiew schon in derselben Bibliothek und haben sogar eine gemeinsame Bekannte in der Millionenmetropole am Dnepr. Fritzi hat weniger Sinn für das geschriebene Wort und scheint überhaupt nur ein Buch zu kennen. Als ich am Abend des ersten oder zweiten Tages in das Schlusskapitel von Peter Flemings Reisebericht Brasilianisches Abenteuer vertieft bin, zeigt er auf den Wälzer und fragt: „Este biblia?“ Doch als ich einer Schublade in der Gemeinschaftsküche einen sanften Tritt versetze, sodass sie zufliegt, ruft Fritzi nicht etwa Jackie Chan oder Bruce Lee, sondern – Winnetou! Benjamin fällt vor Lachen fast vom Stuhl und ich kann mich aus demselben Grund kaum auf den Beinen halten. Es ist irgendwie rührend, dass der Häuptling der Apachen offenbar auch zum Bildungskanon der Szekler gehört. Seit ich die Gruppe als Kapo übernommen habe, nennt mich Fritzi daher „Chef Winnetou“, aber er tut es in einer Art und Weise, die nichts Subversives an sich hat. Bei dem „Sir, yes, sir!“ des Brasilianers, mit dem er gelegentlich meinen „Anweisungen“ begegnet, bin ich mir da weniger sicher. Während der ganzen Zeit unterstellen wir uns im Spaß gegenseitig buzi (ung. schwul) zu sein und einen kicsi fasz (ung. kleinen Penis) zu haben. Zwar haben Benjamin und ich das Alter längst überschritten, in dem man so etwas lustig findet, doch spielen wir das Spiel mit, das Sandro und den beiden Szeklern augenscheinlich so viel Freude bereitet. Auch von dem Landwirt nehmen wir nur ungern Abschied, aber ab dem 20. April geht für uns beide das Studium weiter. Neben der Lohntüte erhalten wir noch je drei Bündel Spargel.
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