Auf dem Flug von Istanbul nach Minsk lese ich die letzten Seiten in Anthony Burgess’ Klassiker A Clockwork Orange. Viele Begriffe der darin verwendeten Kunstsprache „Nadsat“ werden sich in Weißrussland als durchaus nützliche Vokabeln erweisen. Neben mir im Flieger sitzen Richmond und Nixon aus Nigeria. Überhaupt ist das Flugzeug voller Schwarzafrikaner. Was sie ausgerechnet im kalten Minsk suchen, weiß der Teufel. Nixon und Richmond versichern mir zwar, sie seien Touristen, doch letzterer kramt immer wieder einen zerfledderten Zettel hervor, auf dem etwa handschriftlich notiert ist: „You work for XXX Company.“
Angestrengt schaut er auf das Blatt Papier und kneift die Augen zusammen. Er scheint sich die notierten Informationen einprägen zu wollen. Dem Zustand des Fresszettels nach zu urteilen, haben die beiden den langen Weg von Lagos nach der Stadt am Bosporus eher auf einer staubigen Landstraße als an Bord eines Flugzeugs zurückgelegt. Allerdings sind sie gut gekleidet und duften nach teurem Parfum. Wie Flüchtlinge sehen sie nicht aus, eher wie Glücksritter. Die Sache stinkt jedenfalls zum Himmel. Richmond fragt mich nach meiner Nummer, die ich ihm bereitwillig gebe. „Wer weiß, ob ich mir andernfalls eine gute Story entgehen lasse“, denke ich. Ich tippe meinen Vornamen ein. Andere Kontakte sind in seinem Mobiltelefon etwa als „White Woman“ und „Big Jim“ gespeichert. Der Flug verläuft fast ohne Turbulenzen.
Am Flughafen stehen die zirka vierzig Schwarzafrikaner aus meinem Flieger beisammen, als hätte man sie bestellt und nicht abgeholt. Dann höre ich einen Grenzer rufen: „Tourist visa?“ Alle recken ihre Hände in die Höhe. Der Grenzbeamte bedeutet ihnen, ihm zu folgen. Sie alle werden wenig später als „Touristen“ europäischen Boden betreten. Nachdem ich mich eine Weile mit einem überaus netten Grenzbeamten unterhalten habe, stelle ich mich an den Schalter für Diplomaten, den er mir freundlicherweise zugewiesen hat. Die Dame mit den großen Schulterklappen nimmt meinen Reisepass buchstäblich unter die Lupe, doch auf ihre Frage, ob ich einen Rückflug hätte, genügt ein schlichtes „Ja“. Ein prüfender Blick in mein Gesicht, dann haut sie den Stempel in mein Ausweisdokument und wünscht mir einen schönen Aufenthalt. Rückflugtickets habe ich, allerdings sind sie mittlerweile wertlos geworden, weil die Flüge storniert wurden. Auch die obligatorische Reisekrankenversicherung muss ich nicht vorweisen. Doppelt Schwein gehabt.
Die erste Unterkunft, in der ich es mir bequem mache, ist das Tower-Hostel. Es befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Gorki-Park und so habe ich tagelang die Hymne der Scorpions im Ohr, obwohl es sich bei dem von ihnen besungenen Gorki-Park um jenen am Ufer der Moskwa in der russischen Hauptstadt handelt. Mein Schlafsaal ist etwa zur Hälfte mit Westafrikanern belegt. Manche dösen den ganzen Tag in ihren Kojen. „Seltsame Touristen“, denke ich. Wann immer ich einen Schwarzen frage, wo er herkomme, lautet die Antwort entweder Nigeria oder Elfenbeinküste. Mit beiden Ländern verbinde ich schöne Erinnerungen.
Als ich am ersten Morgen zum Badezimmer schlurfe, entdecke ich an der Wand eine Informationstafel, die darüber aufklärt, dass Lee Harvey Oswald, der mutmaßliche Todesschütze John F. Kennedys, in jenem Haus gewohnt habe. Der vom Marxismus begeisterte Amerikaner war im Oktober 1959 in die Sowjetunion gereist und hatte erklärt, sowjetischer Staatsbürger werden zu wollen. Nachdem man ihn in Russland ein Jahr lang rund um die Uhr abgehört und auf Herz und Nieren geprüft hatte, waren ihm in Minsk eine Arbeitsstelle und eine Wohnung zugewiesen worden. Allerdings wurde es Oswald, der in seiner Kindheit und Jugend mehr als zwanzigmal mit seiner Familie umgezogen war, bald langweilig in der weißrussischen Hauptstadt. Nachdem er im März 1961 die Studentin Marina Prusakova kennengelernt und kaum sechs Wochen später geheiratet hatte, kehrte er mit ihr und der inzwischen geborenen Tochter June im Mai 1962 in die Vereinigten Staaten zurück. Anderthalb Jahre später wurde J. F. K. von den tödlichen Kugeln getroffen, die mutmaßlich der Ex-Marine Lee Harvey Oswald abgefeuert hatte.
Nach drei Tagen und drei Nächten habe ich genug vom Abenteuer Afrika und suche mir ein Apartment mit eigener Küche und eigenem Badezimmer. In Minsk, das mich sehr an Kiew erinnert, unternehme ich längere Spaziergänge, fotografiere die sowjetischen Monumentalbauten, besuche das Nationale Kunstmuseum und zahlreiche Cafés, aber die meiste Zeit sitze ich in meiner Klause und lese in Hans Alberts Traktat über kritische Vernunft.
Katya, mit der ich einen Roadtrip nach Hrodna an der Memel unternehme, hat ein Jahr lang im 10. Bezirk in Wien gewohnt und beklagt den Umstand, dass Wien und alle Städte, die sie in der Bundesrepublik besucht habe, mit Türken überfremdet seien. Eine Ausnahme stelle lediglich Heidelberg dar. Als sie in Wien angekommen sei, habe sie nur sagen können „Hände hoch, Hitler kaputt“, aber sie habe rasch besseres Deutsch gesprochen als mancher Orientale, der schon seit zwanzig Jahren in Wien lebe. Auf dem Rückweg kommt es auf dem Highway zu einem kleinen Disput, weil sie sich über angeblichen Sexismus in der deutschen Sprache echauffiert, namentlich über das generische Maskulinum. Überdies sei es ein Unding, dass man „das Mädchen“ sage. Ich habe den Mietwagen, den Sprit und das Mittagessen bezahlt. Als ich in Lida, nach jener Diskussion, auch anstandslos das Abendessen bezahle und immer noch kein spasibo über ihre Lippen kommt, platzt mir innerlich der Kragen. Zurück im Wagen, binde ich ihr auf die Nase, dass man sich in Deutschland für gewöhnlich bedanke, wenn man zum Essen eingeladen werde. Darauf antwortet sie, es verstehe sich in Weißrussland von selbst, dass der Mann bezahle. „In Ordnung“, sage ich, aber dann dürfe sie sich auch nicht als Feministin gerieren und über Sexismus in der Sprache jammern. Sie habe vielmehr zu wählen. Die Dame ist pikiert und während der letzten hundertsiebzig Kilometer von Lida nach Minsk wechseln wir kaum noch ein Wort miteinander. Als ich sie vor ihrer Wohnung absetze, knallt sie mir zwanzig Euronen auf den Beifahrersitz und sagt dabei, sie hoffe, ich hätte den Tag wenigstens ein bisschen genossen. Sie hat sich offenbar für den Feminismus entschieden.
Während meines Aufenthalts in Weißrussland lerne ich ausschließlich Regimekritiker kennen. Es scheint in der jungen Generation keine oder kaum Anhänger des Präsidenten zu geben. Viele erzählen mir, sie seien bei den Protesten verhaftet worden und hätten eine Nacht im Polizeigewahrsam verbracht. Als in einem Rock-Pub eine Hymne der Opposition erklingt, singen alle inbrünstig mit. In sehr überraschte Gesichter blicke ich indes, wenn ich erzähle, dass auch in der Bundesrepublik Deutschland die Arbeit von Regierungskritikern zum Teil behindert werde, ich persönlich Menschen kenne, die für politische Facebook-Posts hinter schwedischen Gardinen verschwunden seien, Publikationen verboten würden und das Verwenden bestimmter Symbole unter Strafe stehe. Zurück in jenes vermeintlich so freie Deutschland geht es über Georgien und die Türkei. In Tiflis, wo ich fünfzehn Stunden auf meinen Anschlussflug nach Istanbul warten muss, esse ich spontan bei einer alten Bekannten zu Abend. Schon bevor ich am Tag meiner Heimreise morgens am Minsker Flughafen anlangte, wusste ich, wen ich dort garantiert nicht treffen würde: Richmond und Nixon.
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