Durchs wilde Pakistan

Veröffentlicht am 3. Februar 2023 um 19:15

Maria, Anfang dreißig, Spanierin, hockt im Frankfurter Flughafen auf der Polizeiwache und kann noch gar nicht so recht begreifen, wie es dazu gekommen ist. Ihr einziges Vergehen? Mit mir in den Urlaub fliegen zu wollen. Endlich händigt uns einer der Beamten wieder unsere Pässe aus. Einer Ausreise nach Pakistan stehe nichts im Weg. Maria ist noch immer ein wenig verwirrt und möchte wissen, ob sie nun jedes Mal mit so einer eingehenden Kontrolle rechnen müsse. „Nur wenn sie mit diesem Herrn reisen“, beruhigt sie der Polizist. Maria weiß noch nichts von meiner politischen Laufbahn. Ich hatte ihr fürs Erste nur gesagt, dass ich auch in der Skinheadszene sozialisiert worden sei. Dass die linke Skinheadszene in Barcelona und die Skinheadszene, von der ich sprach, zwei grundverschiedene Paar Stiefel sind, habe ich ihr bei den beiden Treffen vor unserem Urlaub nicht auf die Nase gebunden. Sie nimmt es erstaunlich locker. Trotzdem bestellt sie auf den Schock erst einmal ein Bier.

 

Unsere Freude darüber, dass es bei Quatar Airways kein Limit auf während des Flugs konsumierte Longdrinks gibt, wird durch ein kleines Ruckeln gedämpft. Es ist nicht einmal eine ordentliche Turbulenz, aber mein Bloody Mary rutscht vom Falttisch und die rote Flüssigkeit verteilt sich ziemlich unvorteilhaft über meine beige Hose. Ich wasche den Tomatensaft mit kaltem Wasser ab. Erst gegen Ende des achtstündigen Zwischenstopps in Doha ist meine Hose langsam wieder bügelfeucht bis schranktrocken. Auf dem Flug von Katar nach Lahore sitzen wir getrennt. Ich hocke zwischen zwei Pakistanern. Einer lebt in Griechenland, der andere in Südafrika. Alle drei tragen wir die Masken auf Halbmast. War ich früher ausgesprochen kommunikativ, habe ich mittlerweile das Schweigen für mich entdeckt und schätze es nicht, bei dieser Tätigkeit unterbrochen zu werden. Um den als Smalltalk bekannten höflichen Austausch von belanglosen Informationen rasch beenden zu können, vertiefe ich mich in die Lektüre von Max Frischs Homo Faber.

 

Lahore ist mit seinen offiziell über elf Millionen Einwohnern – Ortsansässige sprechen von fast doppelt so vielen Menschen – hinter Karatschi die zweitgrößte Stadt Pakistans. Als historische Hauptstadt des Punjabs, die nach der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien im Jahr 1947 dem neu gegründeten Staat Pakistan zugeschlagen wurde, ist Lahore so etwas wie die Seele des Landes. Maria hat hier einflussreiche Freunde. Hauptsächlich Textilfabrikanten. Ehemalige Geschäftspartner aus ihrer Zeit als Modedesignerin. Wie einflussreich diese Personen sind, wird auch ihr erst im Laufe der Woche richtig bewusst. Einer ihrer Freunde lässt uns vom Flughafen abholen und in ein Hotel bringen, das er gebucht hat. Wir bekommen für umgerechnet 28 Euro am Tag einen SUV mit Fahrer. Wir wollen den Wagen eigentlich ohne Fahrer, aber die Sache ist schon abgemacht. Und rückblickend kann ich konstatieren: Die ein oder andere Nahtoderfahrung wäre uns ohne Chauffeur vielleicht erspart geblieben, aber wir hätten auch weniger zu lachen gehabt. Einmal, wir sind ohnehin schon spät dran und der Fahrer ist bereits wiederholt mit der Kirche ums Dorf gefahren, sollen es nur noch zehn Minuten bis zu unserem Ziel sein. Ganz sicher. Dann tanken. Neben einer Moschee. Der Tank ist voll, aber vom Fahrer fehlt jede Spur. Zehn Minuten später kommt er ganz tiefenentspannt aus der Moschee, setzt sich hinters Steuer und lächelt selig. Ob er beim Abendgebet gewesen sei, frage ich. „Yes“. Er lächelt immer noch. Ich sage ihm, wir hätten keine Zeit zu verlieren. „Okay“. Sage und schreibe eine geschlagene Stunde kommen wir zu spät zu unserem Termin, aber das macht überhaupt nichts. Marias guter Freund Azhar verspätet sich nämlich sogar um anderthalb Stunden. Dafür quatschen wir in der Chefetage der Textilfabrik mit seinem Bruder und einem Angestellten, der uns ein paar Kaltgetränke kredenzt.

 

Azhar ist Anfang vierzig. Im Gegensatz zu den meisten Pakistanern trägt er keinen Salwar Kamiz, sondern westliche Kleidung. Immerhin stellt seine Fabrik Jeanshosen her. Das schwarze Haar, in dem sich vereinzelt silbergraue Strähnen zeigen, trägt er akkurat gescheitelt. Nach einer kleinen Führung durch die Produktionsstätte gehen wir in ein gutes Restaurant. Als er nach dem ausgiebigen Abendessen Anstalten macht, die gesamte Rechnung zu begleichen, protestiere ich und zücke meinen eigenen Geldbeutel. Maria winkt ab. Sie habe diese Diskussion unzählige Male mit ihren Freunden in Pakistan geführt: „Du bist ihr Gast. Sie werden es nicht zulassen, dass du dein Essen selbst bezahlst.“ Ich gebe auf. Tags darauf sind wir wieder mit Azhar verabredet, um die Badshahi-Moschee zu besichtigen, die in den Jahren 1671 bis 1674 von Großmogul Aurangzeb erbaut wurde und zu den größten islamischen Gotteshäusern der Welt zählt. Vorher leihen Maria und ich uns aber noch zwei Polo-Pferde aus. Da ich das Trabreiten verlernt habe, geht es bei mir nur im Schritt oder im gestreckten Galopp vorwärts. Diese prächtigen Pferde sind wahrscheinlich die schnellsten, die ich je unterm Arsch hatte, und auch die Polo-Ponys, auf denen Winston Churchill in seiner Zeit als Kavallerieoffizier in Indien Polo gespielt hat, dürften nicht viel besser ausgebildet gewesen sein. Nach der guten dreiviertel Stunde, die wir auf den geschickten Vierbeinern zugebracht haben, wieder Stadtverkehr mit unserem Chauffeur. Überall Autorikschas und vor allem Mopeds der Marke Honda. Das Modell CD 70 muss zigmillionenfach im Land vorhanden sein. Nachbauten gibt es unter Namen wie Pak Star, Road Star und United. Wurden die Maschinen von 1970 bis 1991 noch vom Honda-Konzern im Mutterland Japan hergestellt, werden sie seit Anfang der 1990er Jahre vom pakistanischen Motorradhersteller Atlas Honda zusammengeschraubt. Zwischen Mopeds, auf denen bis zu sechs Personen hocken, Eselskarren und Autorikschas kurven gewöhnliche Autos und bunt behängte Lastwagen herum. Jeder LKW ein Hingucker. Ich finde die Ketten, bunten Fetzen und Neonröhren furchtbar kitschig, doch Maria widerspricht. Alle fahren wie die Bekloppten. Auf dem Weg von der Polo-Farm zu Azhars Fabrik passiert es dann endlich. Ein Unfall. Eigentlich kein Unfall, sondern nur eine kleine Berührung zweier Tuk-Tuks. Direkt vor uns. Wir können nicht nach links und nicht nach rechts. Die Straße ist verstopft. Beide Rikschapiloten steigen aus, beschuldigen sich gegenseitig. Der große Dicke haut dem hageren Jungspund auf die Nase. Dann steigen beide wieder ein und es geht weiter.

 

Die Badshahi-Moschee ist wirklich einen Besuch wert. Sie gilt als eines der bedeutendsten Bauwerke der indo-islamischen Sakralarchitektur der Mogulzeit. Im Jahr 1974 trafen dort die Führer der islamischen Staaten anlässlich der zweiten Islamischen Gipfelkonferenz zum gemeinsamen Gebet zusammen. Zu Abend essen wir im Anschluss in einem Restaurant, von dem aus man die Moschee gut überblicken kann. Auf dem Weg dorthin wird mir ein Luftgewehr in die Hand gedrückt. Ich gehe noch ein paar Schritte zurück, lege an. Treffer. Fünfzehn Schuss hätte ich, sagt mir der Schausteller mit einem Lächeln. Ich frage Azhar, was es koste, aber er hat schon bezahlt. Der zweite Schuss geht daneben. Das Korn ist komplett nach links verbogen, der Lauf ein wenig verzogen. Kentucky windage. Ich ziele nicht mehr in die Mitte, sondern so, dass es passt. Die nächsten dreizehn Schuss sind wieder Treffer. Jedes Mal zuckt der Schaubudenbesitzer leicht zusammen und die Menschentraube, die sich schon nach den ersten Schüssen gebildet hat, wird immer größer. Ein bisschen fühlt man sich schon wie Kara Ben Nemsi oder Davy Crockett. Lachend gebe ich das Luftgewehr nach dem letzten Schuss zurück und frage in die Runde: „Where can I join Pakistan’s army?

 

Eigentlich sind wir in Pakistan, um Ski zu fahren. Allerdings haben wir es uns bereits abgeschminkt, es in Gilgit-Baltistan zu versuchen, einem Teil der zwischen China, Indien und Pakistan umstrittenen Region Kaschmir. Von Lahore bis dorthin ist es einfach zu weit, um ohne Zwischenstopp durchfahren zu können. Wir sagen die Übernachtung in dem dort bereits gebuchten Hotel ab. Stattdessen wollen wir unser Glück in Malam Jabba versuchen, auch wenn die Schneeverhältnisse im Himalaya gewiss besser sind. Das Skigebiet in Malam Jabba war samt Sessellift und Hotelanlagen in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre von den Taliban zerstört worden. Nach der Rückeroberung des Gebiets im Jahr 2016 wurden die Anlagen sukzessive wiederaufgebaut. Das 2020 eröffnete Fünfsternehotel Pearl Continental nimmt stolze zweihundert Dollar pro Nacht für ein Doppelzimmer, aber immerhin befindet sich der neue Sessellift nur einen Steinwurf entfernt. Erst einmal müssen wir allerdings lebend dort ankommen. Unser Fahrer glaubt wahrscheinlich, je waghalsiger er den Wagen lenke, desto besser könne er uns demonstrieren, was für ein guter Fahrer er sei. Das Navi ignoriert er souverän. Weist man ihn darauf hin, dass er zum wiederholten Mal falsch abgebogen sei, lächelt er bloß und sagt: „Okay.“ Neben „wait“ sein Lieblingswort. Oder er zeigt auf das Navi und sagt: „Wrong.“ Jedenfalls: Gas geben kann er! Von Zwei-Sekunden-Abstand oder Schulterblick nie etwas gehört. Als wir auf den Motorway kommen, schnalle ich mich entgegen meiner Gewohnheit an. Ich habe keine Lust, als Abziehbildchen am Heck eines jener bunten Lastwagen zu kleben. Später übernehmen erst Maria und dann ich für eine Weile das Steuer, dass sich unser Chauffeur ein wenig von seinem Rennsport erholen kann. Als uns nach dem Passieren einer Mautstation ein Polizist rauswinkt, bedeutet mir der Fahrer mit einer Handbewegung, ich solle Gas geben. Da ich selbst keine Lust auf eine Verzögerung verspüre, tue ich wie mir geheißen. Wir werden nicht verfolgt. Der zum Beifahrer degradierte Chauffeur zuckt nur mit den Schultern und lächelt. Immer dieses Lächeln.

 

Das Hotel ist ganz in Ordnung, aber im Zimmer ist die Heizung ausgefallen und im Gegensatz zum Pearl Continental in Lahore gibt es weder einen Pool noch eine Bar, in der Ausländern alkoholische Getränke ausgeschenkt werden. Maria findet, es sei die zweihundert Dollar pro Nacht nicht wert. Ich selbst hätte ohnehin ein billiges Hotel vorgezogen. Aber wenigstens haben wir den Sessellift vor der Türe. Ich wundere mich über die Heerscharen von Polizisten und privaten Sicherheitskräften mit ihren aufmunitionierten Kalaschnikows. Nachdem wir zu Abend gegessen haben, verlange ich nach der Rechnung. Als ich bezahlen möchte, steht ein Mann, der mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern drei Tische weiter gesessen hat, auf und sagt: „Your dinner is on me. Welcome to my country.“ Wir sind baff.

 

Obwohl ich keinen Whisky ausstehen kann, möchte ich doch auch das Angebot des Mannes, einen Whisky mit ihm zu trinken, nicht ausschlagen. Maria lässt sich entschuldigen. Sie sei sehr müde und müsse noch telefonieren. Abdulrehman, so heißt er, hat bei Liverpool seinen Schulabschluss gemacht und spricht exzellentes Englisch. Wir unterhalten uns lange über Gott und die Welt. Dem Kellner sagt er, unser nächstes Lunch und auch das darauffolgende Abendessen gehe ebenfalls auf seine Rechnung. Wir seien schließlich Gäste in seinem Land. Von Abdulrehman erfahre ich auch die schlechte Nachricht: Skifahren ist gerade nicht möglich. Die Anlage ist seit vier Monaten geschlossen. Es habe Meinungsverschiedenheiten zwischen der Lokalbevölkerung und dem privaten Betreiber des Skigebiets gegeben. Ortsansässige hätten beispielsweise freien Zutritt zur Piste verlangt. Erst als ich wieder in Deutschland bin, stoße ich bei meiner Recherche auf Schlagzeilen wie „Malam Jabba resort closed after mob attack“. Laut dem Bericht seien Hotelangestellte und Gäste von einer aufgebrachten Menschenmenge angegriffen worden. Der Betreiber des Resorts habe schlicht nicht mehr für die Sicherheit von Urlaubern garantieren können und deshalb den Betrieb des Sessellifts bis auf Weiteres eingestellt.

 

Maria ist am Boden zerstört, als ich ihr mitteile, dass es mit dem Skifahren nichts wird. Sie ruft ihren Freund Achmed an, der ihr das Skigebiet empfohlen hat. Achmed ist ebenfalls Textilfabrikant. Der lässt nun, vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen, seine Kontakte in der Regierung spielen – und das Wunder geschieht: Das Skigebiet wird am nächsten Tag öffnen! Schon am nächsten Morgen rollen ein Jeep und ein Armeelaster an. Ein halbes Platoon soll die Polizei und die privaten Sicherheitskräfte vor Ort verstärken und dafür Sorge tragen, dass die Öffnung ohne Zwischenfälle vonstattengeht. Eine Schneise zum Tickethäuschen wird auf Hochtouren freigeschaufelt und die Pistenraupe steht an diesem Morgen keine Minute still.

 

Dann die Ernüchterung: Oberleutnant Faraz teilt uns mit, dass der Sessellift noch nicht in Betrieb genommen werden könne. Abdulrehman bittet ihn, alles Menschenmögliche zu unternehmen, damit wir, nachdem wir Tausende von Kilometern geflogen seien, um hier Ski zu fahren, nicht unverrichteter Dinge nachhause zurückkehren müssten. Als wir eine Stunde später schon auf gepackten Koffern sitzen, klingelt plötzlich das Telefon auf unserem Zimmer. Ich nehme den Hörer ab: „Sir, someone is here for you. You can ski now.“ Wir werden zur Piste eskortiert, wo Oberleutnant Faraz und ein Weißer auf uns warten. Der Weiße ist, wie sich herausstellt, der technische Manager der Anlage. Er kommt ursprünglich aus Südafrika und hat schon in Skigebieten in Tschechien, Österreich und Italien gearbeitet, bevor es ihn im Oktober 2021 nach Pakistan verschlagen hat. Oberleutnant Faraz hat ihm von unserer Lage erzählt und er ist fest entschlossen, uns ein paar Abfahrten zu ermöglichen. Martin ist der erste Weiße, den wir seit unserer Landung in Lahore zu Gesicht bekommen haben. Er erzählt uns, er habe tags zuvor einen Anruf erhalten. In Islamabad seien die festgefahrenen Verhandlungen zwischen dem Management des Resorts und den Wortführern der Lokalbevölkerung urplötzlich wiederaufgenommen worden und man habe sich sogar am selben Tag noch einigen können. Er freue sich sehr darüber. Schließlich hingen auch etwa fünfhundert Arbeitsplätze in der Region an der Wiedereröffnung des Skigebiets. Nicht zuletzt sein eigener. Von der Intervention unseres Freundes sagen wir nichts, aber wir freuen uns, als Touristen einen Beitrag vor Ort geleistet und erfolgreich Fluchtursachen bekämpft zu haben. Ganz eigennützig und unabsichtlich. Adam Smith und Ayn Rand würden bei diesem Beispiel strahlen übers ganze Gesicht. Martin erklärt uns, der Sessellift müsse noch gewartet werden. Immerhin habe er die letzten vier Monate stillgestanden. Eine reguläre Inbetriebnahme sei frühestens am Abend möglich. Allerdings könne er uns, da wir im Laufe des Nachmittags schon abreisen müssten, mit der Pistenraupe nach oben befördern. Für die Skiausrüstung bräuchten wir übrigens selbstverständlich nichts zu bezahlen. Wir sollen nur ein paar Bilder auf Social Media posten, um Pakistan als Wintersportdestination bekannter zu machen. Als wir schließlich in Skischuhen stecken, geht es dann doch mit dem Sessellift. Während wir abfahren, steht der Lift indes und gehen die Wartungsarbeiten weiter. Vier Stunden später sitzen wir in Skihosen mit unserem Chauffeur im Auto nach Islamabad und können unser Glück immer noch nicht fassen.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.