Ziemlich genau sechzig Minuten Fußmarsch sind es vom Bahnhof Gent-Dampoort bis zum Euro-Silo, wo gerade ein niederländisches Frachtschiff liegt, auf dem ich Heuer genommen habe. Auf diese Weise lerne ich auch die weniger schöne Seite dieser flandrischen Stadt kennen, die ich fünf Jahre zuvor mit einer englischen Kommilitonin besucht habe. Seither durfte Gent, dem im Mittelalter aufgrund des dort blühenden Tuchhandels eine überragende Bedeutung zukam, in keiner Aufzählung fehlen, wenn mich jemand nach meinen Lieblingsstädten fragte. Bewaffnet mit einem vollgestopften Seesack, Knut Hamsuns Landstreicherromanen und einem Laptop geht es an Bord. Geladen wird gerade Rapssaat, die für den Hafen Spijk in der niederländischen Provinz Gelderland bestimmt ist. Aufgrund des für Flandern und die Niederlande gleichermaßen typischen Sauwetters muss der Ladevorgang kurzzeitig unterbrochen werden. Mithilfe eines hydraulischen Hebewagens werden die Lukendeckel in Position gebracht, um die Fracht vor dem einsetzenden Starkregen zu schützen.
Bei den Schiffseignern handelt es sich um eine Familie aus den Niederlanden. Man nennt solche Leute in der Binnenschifffahrt Partikuliere. Kennengelernt habe ich sie etwa ein Jahr zuvor in Mannheim auf dem Neckar. Angelockt von einem wüsten Geschrei, ging ich nach achtern, wo der serbische Steuermann und der polnische Matrose in ein Wortgefecht mit der niederländischen Steuerfrau eines fremden Schiffs verwickelt waren. Alles in gebrochenem Deutsch, der Lingua franca auf Rhein und Neckar. Wie in einem alten Stummfilm mit Stan Laurel und Oliver Hardy in den Hauptrollen, kamen nun auf beiden Seiten immer mehr Menschen hinzu, um mitzumischen. Auf meinem Containerschiff erst ich, dann der polnische Schiffmann, drüben erst der Vater, dann Freund und Schwester und schließlich die ganze Familie nebst philippinischem Matrosen. Es stellte sich heraus, dass die Steuerfrau den Steuermann meines Schiffes darum gebeten hatte, dem Schiffmann zu sagen, er möge vor dem Anlegen noch ein paar Meter fahren. Als der polnische Matrose hinzugekommen war, hatte er gefragt: „Was ist los?“ Der serbische Steuermann hatte geantwortet: „Ist nur diese Frau. Die will was.“ Über die in ihren Augen despektierliche Kombination des Adverbs „nur“ mit dem Substantiv „Frau“ hatte sich die Niederländerin so geärgert, dass der Streit eskaliert war. Ich warf zwei- oder dreimal ein, es handele sich bloß um ein Missverständnis, aber meine Worte gingen im allgemeinen Gebrüll unter. Der polnische Schiffmann hielt zu seiner Mannschaft und bewegte den Frachter keinen Meter mehr vorwärts. Die Niederländer mussten ihren Kahn in einer Flussbiegung festmachen. Als ich kurze Zeit später zu einem griechischen Lokal ging, in dem ich mit einem Bekannten aus Mannheim verabredet war, traf ich die holländischen Partikuliere wieder. Nach zwei Bier winkten sie mich an ihren Tisch herüber, begannen ein freundliches Gespräch und machten halb im Scherz den Versuch mich abzuwerben. Da ich mir dachte, es könne sich irgendwann bei der Suche nach Arbeit auszahlen, mit Partikulieren auf gutem Fuß zu stehen, tauschte ich gerne meine Nummer mit dem Schiffer.
Es ist das erste Mal, dass ich auf einem Schüttgutfrachter arbeite. Das 106 Meter lange und knapp zwölf Meter breite Schiff ist Mitte der 2000er Jahre vom Stapel gelaufen und damit auch das modernste, auf dem ich je gefahren bin. Man muss die Hauptmaschine nicht alle paar Stunden von Hand abschmieren, wie ich es von Schiffen älterer Bauart gewohnt bin. Und dass es an Bord WiFi gibt, kann ich erst gar nicht glauben. Aber es stimmt. Vor uns liegt ein rostbrauner Seelenverkäufer, auf dem es mit Sicherheit kein Internet gibt, an Backbord die Lowlands Mimosa. Wie ein Mimöschen sieht das bullige Monstrum von einem Schiff allerdings nicht gerade aus. Der Eisberg, den das Ding rammt, möchte ich jedenfalls nicht sein.
Die Wohnung auf dem Vorschiff teile ich mit Juwardo, einem indonesischen Matrosen. Er möchte „Ju“ gerufen werden, ist Moslem und wäscht sich vor dem Gebet, auch wenn er kurz zuvor geduscht hat. Die Suppe, die Ju kocht, schmeckt ausgezeichnet. Die ersten Schleusen sind Salzwasserschleusen, dann geht es auf die Westerschelde. Sie ist der südlichste niederländische Meeresarm. Ein leichtes Unwetter: Das Schiff beginnt ein wenig zu schaukeln, nicht stark, nur ein kleines bisschen, aber es tut gut, wieder Wasser unterm Arsch zu haben. Stundenlang warte ich abends auf den Befehl, den Anker fallen zu lassen, aber er kommt nicht. Auch hierfür liegt die Ursache in der modernen Bauart des Frachters, der über zwei sogenannte Ankerpfähle verfügt, die das Auswerfen oder Fallenlassen des eigentlichen Ankers obsolet machen. Das ist das Ende eines Prinzips, das mindestens seit der Bronzezeit bekannt war: Leine oder Kette in Kombination mit einem schweren Gegenstand. Auch das Schwojen, das einlullende Hin- und Herdrehen eines ankernden Schiffes im Wind, ist damit passé. Stattdessen fixieren die auch Stelzen genannten Ankerpfähle das Schiff an einer ganz bestimmten Stelle im Flussbett. Zweifellos ein Fortschritt und eine enorme Arbeitserleichterung. Was hat man sich nicht oft beim Lichten von Ankern abgemüht! Trotzdem will bei mir keine rechte Freude über diese Veränderung aufkommen.
Auf der Waal, einem Ausläufer des Rheins, gilt es tags darauf, das Deck zu schrubben. Wenigstens diese Arbeit treibt einem noch die Schweißperlen auf die Stirn. Sogar im Januar. Und wieder regnet es in Strömen. Nach kurzer Zeit sind meine Schuhe komplett durchnässt. Auch Jus Stiefel sind undicht. Wir lachen beide darüber. Denn: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Vorher hat Ju mehrere Jahre auf Fischerbooten gearbeitet. Erst in Taiwan und später in Portugal. Hier sei es besser als auf den Fischerbooten. Als ich nachhake, grinst er und erklärt: „Many work, less sleep.“ Außerdem sei die Bezahlung schlechter. Ich bleibe nur vier Wochen an Bord, Ju ist für neun Monate unter Vertrag. Niemand weiß, wohin die Reise geht. Erst nachdem wir in Spijk die Rapssaat gelöscht haben, sickert das nächste Etappenziel durch: Duisburg. Ladung: Kruppstahl.
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