„Come si dice in italiano?“, fragt Carmen (Name geändert) und zeigt dabei auf ein künstliches Feuer, das hinter uns raucht und knistert. Ich trinke einen Schluck Rotwein und stelle das Glas anschließend auf den kleinen runden Tisch zurück, wobei ich mich weit über den Rand des Whirlpools lehnen muss, in dem wir beide sitzen. Nach dieser kurzen Pause, die so künstlich ist wie das Feuer, antworte ich: „Fuoco.“ „Und der bestimmte Artikel?“, fragt sie. „Il fuoco.“ „Okay, eins zu null.“ Das soll ein Spiel werden und wer zuerst zehn Punkte hat, steigt als Sieger aus der Wanne.
Ich habe Carmen nur einmal zuvor getroffen. In einem Irish Pub in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Damals habe ich in Rumänien gelebt und sie in Italien. Mittlerweile sind wir zufällig fast Nachbarn geworden. Sie als Wahlbelgierin und ich als Wahlholländer. Deshalb haben wir beschlossen, einen Kurztrip in die Ardennen zu unternehmen. Und als hätten wir geahnt, dass uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen würde, haben wir eine Suite mit Jacuzzi gebucht. Tatsächlich bleiben die Skipisten trotz Schnee geschlossen. Als ich auf ein Kissen zeige und frage, wie man das Ding auf Deutsch nennt, sagt sie, es sei etwas mit „K“. Nach einigem Hin und Her stammelt sie: „Küssen?“ „Fast“, sage ich und bitte sie, auf meine Seite des Whirlpools zu kommen, ich müsse ihr etwas demonstrieren. Ich zeige ihr also, worin der Unterschied zwischen dem Substantiv „Kissen“ und dem von ihr geäußerten Verb besteht. Natürlich kommen wir nicht bis zur zehnten Frage.
Obwohl alles so läuft, wie ich es mir vorher ausgedacht habe, verschafft mir diese Sache keine tiefergehende Befriedigung. Plötzlich habe ich den Song Satisfaction der Rolling Stones im Kopf. Und meine Exfreundin. Man kann den Verlust einer Italienerin eben nicht einfach mit einer anderen Italienerin aufwiegen, wie man eine durchgebrannte Glühbirne mit einer neuen ersetzt.
Am nächsten Tag besuchen wir Malmedy und Lüttich. Malmedy und dessen Umgebung waren im Zweiten Weltkrieg Schauplatz zweier Kriegsverbrechen. Nachdem die Stadt im Herbst 1944 zunächst von den Amerikanern erobert, im Zuge der Ardennenoffensive Mitte Dezember von deutschen Truppen überrannt und schließlich erneut von US-Truppen eingenommen worden war, bombardierten amerikanische Flugzeuge Malmedy an den Weihnachtstagen dreimal versehentlich. Dabei wurden beinahe die Hälfte der Gebäude zerstört und 230 Zivilisten getötet, außerdem eine größere Anzahl GIs. Das zweite Kriegsverbrechen spielte sich kurz nach Rückeroberung der Stadt durch deutsche Truppen in der vier Kilometer südöstlich von Malmedy gelegenen Ortschaft Baugnez ab. Am 17. Dezember 1944 kam es dort zu einer Massenerschießung zuvor gefangengenommener US-Soldaten durch Angehörige der Waffen-SS. Der Objektivität halber sei erwähnt, dass auch mehrere Gefangenenerschießungen auf amerikanischer Seite dokumentiert sind.
Auf dem Rückweg nach Brüssel kommen wir an der Ortschaft Dison vorbei. Sie liegt etwa dreißig Kilometer von Aachen entfernt an der A 27. Weil wir beide von der weithin sichtbaren Kirche fasziniert sind, beschließen wir, bei der nächsten Möglichkeit umzukehren und in Dison einen Zwischenstopp einzulegen. Der winzige Ortskern im Tal ist rasch besichtigt, deshalb zieht es uns auf den auf einer Anhöhe über dem Städtchen gelegenen Friedhof. Was sofort in die Augen sticht: die Omnipräsenz deutscher Nachnamen. Gefühlt ist auf jeder zweiten oder dritten Grabplatte einer eingemeißelt. Da steht beispielsweise das riesige Grabmal der Familie Deheselle-Schmitz. Oder dasjenige der Familie Bodson-Kohl. Und ein 1918 geborener Henri Beckers hat die sieben Jahre jüngere Hélène Rouvroye geheiratet. Neben dem Bild des jungen Herrn Beckers in Uniform die belgische Trikolore. Außerdem ist eine Bronzeplatte auf dem Grab angebracht, die den Verstorbenen als Veteranen ausweist. „Un combattant de la Grande Guerre 1940–1945. Passant!....Souviens-toi“, ist darauf zu lesen, also „Passant, erinnere dich“ oder „denk daran“. Eine solche Bronzeplatte findet sich auf allen Gräbern, in denen Kriegsteilnehmer bestattet sind, während für die Gefallenen ein eigener Bereich auf dem Friedhof eingerichtet ist, über dem die belgische Fahne weht.
Was mögen die deutschstämmigen Ostbelgier sich gedacht haben, als sie gegen die Wehrmacht kämpfen mussten? Da die Region bei Kriegsbeginn genau zwei Jahrzehnte lang belgisch gewesen war, wird die Konfrontation für manch eine Familie eine ähnliche Tragödie bedeutet haben wie der russisch-ukrainische Krieg für diejenigen Ostukrainer mit gemischten Loyalitäten. Andererseits wird der Krieg für viele junge Männer auch sinnstiftend gewesen sein. Das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft, zu dem Dison nicht gehört, umfasst etwa 60.000 deutschsprachige Belgier und außerdem 17.000 deutsche Staatsangehörige und andere Ausländer. Ihr politisches Zentrum ist die Stadt Eupen, deren 20.000 Einwohner mehrheitlich deutschsprachig sind. Noch einmal 30.000 deutschsprachige Belgier verteilen sich auf den Rest des Landes, vor allem auf die angrenzenden Gebiete. Zum Vergleich: Es gibt in Belgien über vier Millionen frankophone Wallonen und mehr als sechs Millionen Flamen.
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