Die Londoner Stadtmusikanten

Veröffentlicht am 27. Juli 2023 um 15:58

Die niederländische Gendarmerie musste bei meiner Ausreise ins Vereinigte Königreich Berlin verständigen. Ich bin also nicht weiter überrascht, als ich beim Verlassen des Fliegers in London ein Begrüßungskomitee von vier Anzugsträgern erblicke. Eine hagere Brünette fragt nach ein paar Belanglosigkeiten, dann zückt ein untersetzter Mann um die fünfzig mit einer Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen einen Ausweis, räuspert sich und sagt beinahe feierlich: „We’re police, sir. Counter-Terrorism.“ Eine Anti-Terroreinheit also! Ich hatte zwar nicht mit Versicherungsvertretern gerechnet, aber dass die Briten mir eine Anti-Terroreinheit auf den Hals hetzen, kommt doch etwas unerwartet. Spätestens jetzt ist mir klar, was mir schon bei der Ausreise dämmerte: Meinen ursprünglichen Plan, mich als britischer Staatsbürger bei der Royal Navy zu bewerben, kann ich getrost ad acta legen. Jede Seite meines Schifferdienstbuches wird abfotografiert.

 

Unter Schedule 7 der illiberalen Anti-Terrorgesetzgebung nach dem 11. September dürfen mich die Gangster bis zu sechs Stunden lang ohne Begründung festhalten, mein Gepäck durchwühlen, DNA-Proben und Fingerabdrücke nehmen, mich von allen Seiten abfotografieren, in meinem Handy und meinem Notizbuch herumschnüffeln und nach den Namen und Geburtstagen all meiner Verwandten fragen. Ein Recht zu schweigen gibt es nicht. Und wer nicht kooperiert, der begeht – man wagt es kaum auszusprechen – eine Straftat! Wo habe ich doch erst kürzlich sinngemäß gelesen, die Anti-Terrorgesetzgebung nach 9/11 im Vereinigten Königreich konterkariere alle Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit? Richtig: in Tom Binghams Bestseller The Rule of Law. Gebetsmühlenartig wiederholen die Kommissare ihre Behauptung, sie unterstellten mir nicht, ein Terrorist zu sein, aber es sei ihre Aufgabe herauszufinden, ob ich in der Vergangenheit an Terroranschlägen beteiligt gewesen sei oder künftig solche zu verüben gedächte. Was ist bloß aus den Engländern geworden, über die der Spanier José Ortega y Gasset 1930 schrieb: „Als um 1800 die neue Industrie einen Menschentypus schuf, den Industriearbeiter, der gemeingefährlicher war als die bisher bekannten, beeilte sich Frankreich, eine starke Polizei aufzustellen. Um 1810 steigt in England die Kriminalität aus denselben Gründen, und bei dieser Gelegenheit machen die Engländer die Entdeckung, dass sie keine Polizei haben. Die Konservativen sitzen in der Regierung. Was tun sie? Schaffen sie eine Polizei? Nichts dergleichen. In England zieht man es vor, das Verbrechen, solange man irgend kann, zu dulden. […] Der Engländer setzt dem Staat Grenzen.“

 

Wohl weil ich in grauer Vorzeit mal der „Anführer“ einer Gruppe jugendlicher Rabauken mit brauner Gesinnung war, fragt mich die hagere Brünette, ob ich auch jüdische Freunde habe. Wie gut ich mit ihnen befreundet sei, möchte sie als nächstes wissen. Dann kommen die Schwulen und Schwarzen an die Reihe. Als ich ebenfalls bejahe, hakt sie nach:

„Würden Sie auch mit einer Schwarzen gehen?“

„Schwarze Mädels sind nicht mein Typ.“

„Warum sind sie nicht Ihr Typ? Was ist denn Ihr Typ?“

„Sie sind einfach nicht mein Typ. Ich stehe eher auf Italienerinnen. Deshalb bin ich auch mit einer zusammen.“

Die Beamtin sieht konsterniert zu Boden und lässt es endlich gut sein.

 

Nach fünf Stunden bekomme ich wieder mein Schifferdienstbuch, meinen Presseausweis und meine Reisepässe ausgehändigt. Ich darf gehen, aber ohne mein Mobiltelefon. Das bekäme ich in sieben Tagen an meine Adresse in den Niederlanden geschickt. So lange dürften sie es unter Schedule 7 einbehalten, um die Untersuchung abzuschließen. „Ich frage Sie nicht nach Ihrem Einverständnis“, grunzt der dickliche Mann mit der Zahnlücke, als er mir ein händisch ausgefülltes Formular vorlegt, auf dem mein Mobiltelefon als beschlagnahmter Gegenstand aufgeführt ist. „Sauklaue!“, hätten meine Grundschullehrer gepoltert. Er fordert mich zum Unterschreiben auf, behalten würden sie es aber auch ohne Unterschrift, nur dass ich mich dann zusätzlich noch strafbar machen würde, weil ich unter Schedule 7 zur Kooperation verpflichtet sei und der Aufforderung eines Beamten jederzeit Folge leisten müsse.

 

„Das ist sooo 1984“, denke ich, unterschreibe, packe meine sieben Sachen und mache mich vom Acker. Mein Rückflug ist erst fünf Tage später. Was mit der ganzen Zeit anfangen? Ich habe ein Buch von Jack Kerouac dabei, aber seine spontane Prosa ist nicht mein Fall. Irgendwie muss ich mir die Zeit vertreiben, wo es jetzt mit der Royal Navy nichts wird, also beschließe ich, ein soziales Experiment durchzuführen: Wie reagieren die Menschen in London auf Straßenmusik? Zum Glück habe ich zufällig meine Mundharmonika im Rucksack. Da ich erst wenige Tage zuvor einer Flötenspielerin in meiner niederländischen Wahlheimat zwei Euro in den Becher gelegt habe, bin ich guter Dinge. Am nächsten Morgen soll es losgehen. Gegen halb eins werde ich wach, weil neben mir ein Wortgefecht im Gange ist. Eigentlich eher ein Monolog. Im Stockbett gegenüber hat es sich eine schwarze Frau um die vierzig bequem gemacht. Das Problem? Es ist nicht ihr Bett. Der ebenfalls schwarze Hostelangestellte fordert die Frau auf, ihren Namen zu nennen, damit er dem Mittdreißiger aus dem Nahen Osten, der nun ohne Schlafstatt dasteht, ihr Bett geben könne. Bald kommt allerdings der Verdacht auf, dass sie gar kein Bett bezahlt habe, weil sie immer nur antwortet, es gebe keinen Grund, laut zu werden, es sei schließlich mitten in der Nacht. Die Männer geben es schließlich auf und ziehen sich zurück. So kehrt wieder Ruhe in dem Schlafsaal ein, bis sich morgens im Minutentakt ein Handy nach dem anderen bemerkbar macht, um seinem Besitzer anzuzeigen, dass es Zeit zum Aufstehen sei. Ich muss innerlich grinsen und weiß gewiss: „Meins ist es nicht!“

 

Nachdem ich eine Weile erfolglos vor der Metropolitan Railway Station geträllert habe, setze ich mich vor eine anglikanische Kirche, in der gerade die Sonntagsmesse gelesen wird. Dieses Experiment ist auch aus religionswissenschaftlicher Perspektive interessant. Als der Gottesdienst aus ist und die Gläubigen einer nach dem anderen vor die Tür treten und sich bekreuzigen, fange ich an zu spielen. Alle gehen an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Auch der Priester im weißen Gewand. Ich hebe meine Mütze vom Kirchhof auf und pilgere weiter.

 

Im Hyde Park ist großer Zapfenstreich. Vor dem Ehrenmal für die Kavallerie des Empire stehen Offiziere aus Australien, Indien und anderen Commonwealth-Nationen Spalier. Die Sonne lacht und es herrschen für englische Verhältnisse geradezu hochsommerliche Temperaturen. Ein Fahnenträger mit Beerenfellmütze bricht zusammen und wird kurzerhand ersetzt. Dann ziehen, geordnet nach Regimentern, Veteranen im schwarzen oder dunkelblauen Sonntagsanzug am Ehrenmal vorbei, während der Musikzug den Radetzky- und andere Märsche spielt. Neben der großen Ordensspange tragen alle Veteranen Schirm und Melone. Letztere nehmen sie zum Zeichen der Ehrerbietung vom Kopf, während sie, die Augen rechts, am Reiterstandbild des Drachentöters St. Georg vorbeimarschieren. Auf die Veteranen folgt eine Abteilung der aktiven Armee im Tarnanzug. Während ich unter den Aberhunderten von Anzugsträgern nur drei Frauen gezählt habe, herrscht bei der Abordnung 2023 Parität. Meine Neugier ist befriedigt, also setze ich meine Wanderung fort, immer noch auf der Suche nach einem geeigneten Plätzchen zum Musizieren.

 

Vor dem Denkmal des Dichters Lord Byron füttert eine steinalte Frau in abgetragener Kleidung die Tauben. Sonst befindet sich niemand auf der Straßeninsel, auf der das Monument steht. Eine Szene wie direkt aus Mary Poppins. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite: ein Nobelhotel mit teils vergoldeter Fassade. Auf dem dazugehörigen Parkplatz schneidet eine Hotelbedienstete mit einer handelsüblichen Papierschere Blumenblätter. Augenzwinkernd frage ich, ob es in der Küche an Gemüse fehle. So kommen wir ins Gespräch. Wo man in London Obdachlose antreffen könne, möchte ich von ihr wissen. Sie sei neu in der Stadt, aber an einer nahgelegenen Tankstelle habe sie schon häufiger welche gesehen. Tatsächlich werde ich dort fündig. Leider schläft der Mann noch, obwohl die Sonne schon hoch am Himmel steht. Ich biege um die Ecke und treffe auf John aus Liverpool, der gerade seinen Schlafsack zusammengerollt hat. Als Bett haben ihm die Stufen einer Kirche gedient. Ich frage ihn, welche Stelle er mir zum Trällern empfehlen würde. Er rät mir, es im Green Park zu versuchen. Wir verabschieden uns herzlich.

 

Obwohl es im Green Park von Menschen nur so wimmelt, ist mir auch dort mit meiner Mundharmonika kein Glück beschieden, also löse ich ein Ticket und fahre mit der U-Bahn nach Whitechapel am anderen Ende der Stadt. Immerhin hat der rasende Reporter Egon Erwin Kisch dort mal eine Nacht in einer Obdachlosenunterkunft verbracht. „Unter den Obdachlosen von Whitechapel“ ist mit Abstand meine Lieblingsreportage von Kisch, weshalb ich dieses Whitechapel einmal sehen möchte. Als ich bei der Station Oxford Circus umsteige, treffe ich meine erste Londoner Straßenmusikantin. Ihr Gitarrenspiel ist großartig. Trotzdem kommt sie mir stark unterernährt vor. Ihre Beine sind so dünn, dass ich mich frage, wie sie die Sängerin samt der Gitarre tragen können. An der nächsten Abzweigung: ein Zigeuner mit einem Pappschild, auf dem steht: „Hungry & homeless“. Ich starte also auch hier einen Versuch und setze mich an eine Zweigstelle im Tunnelsystem. Allerdings haben die Leute hier unten nicht einmal die Zeit wegzuschauen. Im Vorbeistürzen glotzen sie einen ungeniert an, so eilig haben sie es. Zwar kann es mir grundsätzlich ganz recht sein, wenn niemand zu lange zuhört, weil ich nur fünf Lieder im Repertoire habe und das fünfte noch dazu ein Weihnachtslied ist. Aber ich habe es nach kurzer Zeit satt und mache, dass ich nach Whitechapel komme.

 

Da ich in Whitechapel keine Engländer antreffe und auch nicht im Internet recherchieren kann, laufe ich nur ein bisschen ziellos durch die Gegend, esse in einem orientalischen Imbiss und nehme dann den Bus zur Kathedrale St. Paul. Vielleicht aus Nostalgie. Als 16-Jähriger habe ich nämlich mal auf einer Bank vor dieser Kirche übernachtet, weil alle Hostels ausgebucht waren. Zwar kann ich die Bank nicht mehr finden, aber ich sehe dafür einen Mann, der gerade dabei ist, sein Piano aufzubauen. Mack hat in Groningen Politikwissenschaft studiert und ist mittlerweile schon vier Jahre als Straßenmusiker unterwegs. Was man so im Schnitt in einer Stunde verdiene, möchte ich von ihm wissen. „Forty, fifty quid“, sagt er, schiebt aber noch hinterher, es sei oft erheblich weniger. „Vielleicht bekommt man mehr, wenn man dazu singt, aber ich mache das nicht.“ Ich muss sofort an das Handwerk der Krächzer denken, von denen der walisische Dichter William Henry Davies in seiner Autobiografie Supertramp berichtet. Sie zogen durch Wohnviertel, stellten sich vor Häuser und sangen absichtlich so schief, dass ihnen die Leute gern Geld gaben, um sie loszuwerden. Ich frage Mack, ob man eine Lizenz benötige. Er zuckt mit den Achseln: Man brauche wohl eine, aber er sei noch nie kontrolliert worden.

 

Der Durchschnittsverdienst, den der Pianist mir genannt hat, lässt mich wieder neuen Mut schöpfen. Vor der Millennium Bridge sitzt ein alter Mann und spielt virtuos auf seiner Ziehharmonika. Es ist eine volkstümliche Melodie aus Europas wildem Osten. Da sich vom südlichen Themse-Ufer her schon die Bassstimme des nächsten Stadtmusikanten vernehmen lässt, setze ich mich mitten auf den Steg, fixiere mit den Augen die Tower Bridge und gebe stoisch in Dauerschleife meine fünf Lieder zum Besten. Aber auch hier landet nicht ein Penny in meiner Mütze. Ich weiß durchaus, dass ich kein Jimi Hendrix bin. Trotzdem möchte ich empirisch erforschen, ob nur ich das Problem bin.

 

Am südlichen Themse-Ufer komme ich an zig Straßenmusikern vorbei, namentlich an Akkordeonspielern und Gitarristen. Bei einem Gitarrero, der neben der Waterloo Bridge vorm Nationaltheater steht, verweile ich genau eine Stunde lang. Er hat einen riesigen Notenschlüssel auf dem Unterarm tätowiert und singt zu seinen Klassikern à la „Hotel California“, „Losing my Religion“ oder „House of the Rising Sun“. Ich registriere so unauffällig wie möglich jede Gratifikation. Nach etwa einer viertel Stunde wirft ein kleines Mädchen zwei unterschiedlich große Münzen in die Gitarrenhülle und läuft danach strahlend zu ihrer Mutter zurück, von der sie das Klimpergeld erhalten hat. Sagen wir, die kleine Münze war ein Pfund. Als nächstes wirft ein Mann um die fünfzig eine große silberne Münze hinein. Mit Sicherheit ein Fifty-Pence-Stück. Ein wenig später legt eine etwa gleichaltrige Frau eine Münze in die Gitarrenhülle. Vielleicht ein Pfund. Zuletzt wirft ein kleiner Bub zwei Münzen unterschiedlicher Größe hinein, die ihm sein Vater zugesteckt hat, nachdem der Musiker sich mit „Johnny Be Good“ mächtig für den kleinen Jungen ins Zeug gelegt hat. Wenn das im besten Fall anderthalb Pfund waren, hat der Vollblutmusiker in einer geschlagenen Stunde also maximal vier Pfund und fünfzig Pence verdient.

 

Ich ziehe Bilanz. Weder die Londoner noch die Touristen sind besonders freigebig. Meine Conclusio: Der Sozialstaat hat den Charakter der Menschen verdorben. Wenn der Staat sich um alles und jeden kümmert, dann muss keiner auf der Straße leben, so die Logik. Ich für meinen Teil spare lieber Steuern und werfe weiterhin jedem Straßenmusikanten ein paar Münzen in den Becher. Der Gitarrist vor dem Nationaltheater erzählt mir, die Polizei sei nördlich der Themse strikter, besonders in Westminster. Ihn hätten sie aber auch schon auf der Südseite zweimal zur Kasse gebeten, weil er keine Lizenz vorweisen konnte. Allerdings habe er beide Male erfolgreich den Kopf aus der Schlinge ziehen können und habe auch nicht vor, eine Lizenz zu erwerben. Mit Corona sei alles schlechter geworden. Seither dürfe man in Westminster fast nirgends mehr mit Verstärker spielen. Wir wünschen uns gegenseitig Glück, aber ich werde meine Mundharmonika nicht mehr aus der Tasche ziehen. Mein soziales Experiment ist beendet und die Londoner sind durchgefallen.

 

Zurück zum Holland Park, in dem sich mein Hostel befindet. Auf einer der beiden Golden Jubilee Bridges hat ein bärtiger alter Mann mit seinem Schlagzeug Stellung bezogen. Neben dem Schlagzeug, das aus zwei Trommeln und einigen Becken besteht, liegen seine Krücken. Der Rest seiner Habseligkeiten befindet sich in einem ledernen Koffer und einer Tragetasche. Ich muss an Ralph McTells Lied „Streets of London“ denken, in dem es über eine alte Frau heißt, sie trage ihre Wohnung in zwei Tragetaschen mit sich herum. McTell trampte selbst als Straßenmusiker durch Europa. Hätte ich einen Fotoapparat oder wenigstens ein Handy zur Hand gehabt, hätte ich eine Reportage über Londoner Straßenmusikanten schreiben und vielleicht den Egon-Erwin-Kisch-Preis gewinnen können. Aber eine Reportage ohne Bilder? Jetzt bin ich wirklich stinksauer auf die britischen Kommissare, die mein Mobiltelefon beschlagnahmt haben und ich beschließe, die Insel schon am Folgetag wieder zu verlassen. Selbst auf die Gefahr hin, den Parthenon-Fries, den ich als Heidelberger Student nur in Gips bewundern konnte, niemals an seinem traditionellen Ausstellungsort, dem Britischen Museum, goutieren zu können, falls sich Griechenland beim Streit um die Marmorfiguren durchsetzt. Ich habe die Schnauze voll von dieser Stadt und ihren Menschen, ausgenommen natürlich die Obdachlosen und Straßenmusikanten.

 

 

Bild: Mit freundlicher Genehmigung von Lee Martin.

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