Leinen los

Veröffentlicht am 3. Februar 2023 um 18:58

Meinen alten Seesack geschultert, Hermann Hesses Steppenwolf und meinen Laptop im Aktenkoffer, begebe ich mich im Mannheimer Hafen an Bord eines Binnenschiffes, auf dem ich als Decksmann angemustert habe. Mein Master in Geschichte liegt hinter mir, aber für Dissidenten stehen die Chancen auf dem akademischen Arbeitsmarkt schlecht. Der Schiffsführer ist Pole, von den beiden Matrosen beziehungsweise Steuerleuten kommt einer aus Serbien, der andere ebenfalls aus Polen. Ihre Lieblingsbeschäftigung scheint es zu sein, mit einer notdürftig geflickten Fliegenklatsche Mücken totzuschlagen und dabei laut zu fluchen. Ich merke bald, dass sie einen Reinlichkeitsfimmel haben, was das Interieur anbelangt. Wenn sie schon bei der Arbeit dreckig werden, soll wenigstens in der „Wohnung“ alles keimfrei sein. Das ist durchaus nachvollziehbar und ich habe dieses Verhalten auch schon bei Spargelstechern und Bauarbeitern beobachtet, die bereits das Innere eines Baggers oder Radladers desinfizierten, als Corona in erster Linie noch etwas zum Trinken war.

 

Wegen Hochwassers darf das Containerschiff zunächst nicht auslaufen, aber es gibt auch so genug zu tun. Zunächst soll die Bilge, also der Kielraum des Schiffs, in dem sich Öl und Leckwasser sammeln, gelenzt werden. Schiffer und Matrose auf dem Bilgenentöler sind offenbar alte Bekannte meiner neuen Kollegen und einer ruft dem polnischen Schiffsführer zu: „Hast du dich in der Tschechei impfen lassen?“ „Zuhause in Polen“, kommt es zurück. Darauf der Mann auf dem Bilgenentöler, der sich bei uns auf die Steuerbordseite gelegt hat: „Ach so, Entschuldigung, ihr seid alle aus Polen, gell?“ Als ich einwerfe, ich sei Deutscher, klappen bei den Herren drüben die Kinnladen herunter. „Sieht man selten auf einem Frachter.“ Von dem Bilgenentöler nehmen wir auch neue Reibhölzer an Bord, die in der Vorpiek verstaut werden und vor allem in den Schleusen benötigt werden.

 

Am selben Tag noch bunkerten wir Diesel und Frischwasser und auch dabei entspann sich wieder ein interessanter Dialog. Der polnische Schiffsführer eröffnete ihn mit folgender Feststellung: „Gestern Abend wollte ich essen gehen. Habe ich nur gesehen Döner.“ Der deutsche Matrose auf dem Bunkerboot entgegnete resigniert: „A jooo. Monnem is schunn lang verlore gange. Do siehsch bloß noch Dehner.“ Im nächsten Augenblick war die Resignation aus seiner Stimme verschwunden und er schimpfte munter drauf los: „Un in Wirzburg denn, denn hewwe se sechs Joar lang gfittert un dann hot a sich bedankt, indem a die Leit abgstoche hot. Wahrscheinlich hede mir demm, wanns noch de Griene gehe det, noch a Therabie bezahle gmisst.“ An dieser Stelle klinkte sich der serbische Steuermann ein: „Fragsch du oder ich, ob wir kriegen Therapie. Hab ich hier geschafft ieber zwelf Jahre. Wir kriegen nix. Aber diese Arschlöcher kommen und kriegen sie alles.“

 

Jener Serbe war es auch, der anderntags, als sich gerade mein Chef mit ein paar anderen hohen Tieren an Bord befand, zu einem regelrechten Rundumschlag gegen Ausländer ausholte. Ich hoffte einerseits, er möge doch endlich von diesem Thema schweigen, andererseits fand ich die Tirade faszinierend, sodass ich sie anschließend Wort für Wort in meinem Notizbuch festhielt. Los ging es mit der folgenden Behauptung: „Bei mir in Nürnberg ist Wildwest, keine Regeln mehr. Viel zu viele Ausländer. Ist scheiße, diese Stadt, mir gefällte nix. Kurva!“ Seine plastischen Schilderungen falschparkender Ausländer und ähnlicher von ihm beobachteten Bagatelldelikte unterstrich er meistens mit der Redewendung „Mein lieber Scholli!“, wobei er „Scholli“ jedoch „Dscholli“ aussprach und dem französischen Original joli (schön, nett, hübsch) somit näherkam als hätte er die deutsche Verballhornung richtig wiedergegeben. In einer viertel Stunde, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, exerzierte dieser brave Steuermann im Brustton der Überzeugung den Katechismus des deutschen Stammtischpatriotismus durch, um seine Jeremiade mit der Warnung zu beschließen, Deutschland werde so zugrunde gehen wie der Kosovo, der immer schon nichts als serbisch gewesen sei. Während seiner Ansprache hatte er an einer Stelle kurz innegehalten und den Zeigefinger gehoben, so als habe das, was er nun sagen wolle, besonderes Gewicht. Es war ungefähr das Folgende: „Versteh ich nicht, diese Deutsche, die sagen, wann einer hat deutsche Papiere, dann ist Deutscher. Pass kann sein alles, ist nur Papier. Ich kann sein Deutscher auf Ausweis, aber hier“ – dabei schlug er sich heftig mit der geballten Faust an die Brust – „ich bin immer Serbe!“

 

Nachdem unsere Fracht für Mannheim gelöscht worden war und wir neue Container für Stuttgart geladen hatten, mussten wir nur noch auf die Wiederinbetriebnahme der Schleusen warten, denn es gibt deren dreiundzwanzig auf der Strecke. Da auch das Wetter mitspielte, befreite ich ein Stück Gangbord vom Rost und strich es wieder mit Grundierung und grauer Lackfarbe. Sowohl der Winkel als auch das Gangbord, das an den Seiten des Schiffes außerhalb des Laderaumes entlangführt, waren während der Lockdowns in Mitleidenschaft gezogen worden, weil man statt der üblichen Container auch Metallschrott hatte transportieren müssen. Beim Löschen und Laden desselben waren immer wieder einzelne Teile auf Winkel und Gangbord gefallen.

 

Es war schon später Nachmittag, als der Schleusenmeister die Arbeit aufnahm. Nun konnten wir endlich zu Berg fahren, wie es in der Schiffersprache heißt. Das Festmachen in den Schleusen war für mich Neuland, da ich als Maschinenkadett in der Seeschifffahrt nie ein Tau angefasst, geschweige denn eine Schleuse zu Gesicht bekommen hatte. Als wir einige Tage später wieder zu Tal fuhren, kam ich beim Ausschlenken der Taue ein paarmal ins Schwitzen, aber im Großen und Ganzen ließ sich die Arbeit gut an. Auch die Wohnsituation behagte mir. Die Kammern sind eng, aber die Fenster lassen sich öffnen und schließen und haben sogar Rollläden, sodass man bis 5.30 Uhr durchschlafen kann, sofern man keine ungebetenen Gäste in der Koje hat. Um die lästigen Blutsauger draußen zu halten, empfiehlt es sich, die Türen zu schließen.

 

Der Ausblick, den man auf einer Neckarfahrt hat, entschädigt indes für jeden Moskitostich. Jedes Mal, wenn ich an Deck trete, bietet sich mir ein malerischer Anblick. Mal ist es die Heidelberger Altstadt, die Burg Hornberg oder eine der zahllosen anderen Neckarburgen, dann das Schloss Gundelsheim, in dem ich als Student ein zweiwöchiges Museumspraktikum absolviert habe, dann die Stauferpfalz Bad Wimpfen oder das pittoreske Hirschhorn. Und dann ist da noch Neckarsteinach. Jenes kleine Städtchen, das im Dreißigjährigen Krieg von Tillys Katholischer Liga eingenommen wurde, in dem mehrfach die Pest wütete, aus dem die bayerischen Besatzungstruppen durch die Schweden vertrieben wurden, auf die wiederum die Kaiserlichen folgten. Jenes Neckarsteinach, durch das im Pfälzer Erbfolgekrieg französische, sächsische, kurbrandenburgische und bayrische Truppen zogen, in dem sich nach 1685 zahlreiche Hugenotten niederließen, die in Frankreich wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Jenes Neckarsteinach, das im 18. Jahrhundert den am Spanischen, Polnischen und Österreichischen Erbfolgekrieg beteiligten Truppen als Lazarettstadt diente und in das sich im 19. Jahrhundert Heidelberger Studenten begaben, um sich zu duellieren, wenn die Mensur im Großherzogtum Baden gerade verboten war. Während ich also in den Anblick dieses Städtchens mit seinen vier Burgen versunken bin, werde ich von dem polnischen Matrosen darüber informiert, dass es dort auch drei Bordelle gebe.

 

Er, der mich immer Mr. Amerika nennt und mir das Spleißen von Tauen beibringt, ist ohnehin ein ganzer Kerl. An und für sich wortkarg, kommt es doch immer wieder zu denkwürdigen Reflexionen wie der folgenden: „Was machst du?“ „Ich schmiere ein Marmeladenbrot.“ Darauf er: „Fleisch muss sein.“ Als ich ihm antworte, ich äße abends und ab und zu mittags Fleisch, sagt er nachdenklich: „Ich dreimal am Tag Fleisch.“ Und als wir an einem Campingplatz vorbeifahren, auf dem man Leute auf Klappstühlen vor ihren Wohnmobilen sitzen sieht, ruft er verärgert aus: „Was für ein Urlaub ist das, kurva?! Sitzen zwei Wochen wie Affen und gucken in Luft?“ Dieses jähe Temperament zeigt sich auch beim Fußball. Wir schauen zusammen die EM-Halbfinale und das Finale England gegen Italien, wobei wir die in den serbischen Nationalfarben bepinselte Satellitenschüssel mehrfach versetzen müssen, um Empfang zu haben, weil zunächst ein Ladekran im Weg ist. Bei jedem Ballverlust der Engländer ertönt ein lautes kurva, zuweilen begleitet von einem dröhnenden Schlag aufs Polster der lederüberzogenen Sitzbank.

 

Nachdem wir unsere Ladung in Mannheim gelöscht haben, geht es mit einer Back nach Germersheim auf den Rhein und dann leer in die Werft nach Speyer. In Mannheim sind der Serbe und die beiden Polen von Bord gegangen. Unter den neuen Besatzungsmitgliedern ist auch ein Deutscher, der kurz vor der Rente steht und sein altes Haus auf den Philippinen durch einen Taifun eingebüßt hat. Nennen wir ihn Alex. Mit ihm streiche ich in der Werft die Eichmarken und die Bergplatte. Alex erzählt mir dabei von seinem ganz persönlichen „Ist-das-Kunst-oder-kann-das-weg?-Moment“. Als er vor mehr als zwei Jahrzehnten neue Reibhölzer „organisieren“ sollte, vernichtete er dabei versehentlich ein Kunstwerk. „Es sah aus, als hätte jemand Holz zum Verbrennen gestapelt“, sagt er achselzuckend und taucht den Pinsel in den Farbeimer. Die Zeitung habe damals berichtet, jemand müsse vorsätzlich die Installation zerstört haben. Sogar die Kriminalpolizei habe ermittelt. Aus seiner Sicht sei es jedenfalls ein Holzhaufen gewesen, nichts weiter.

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