„Gibt es ein Problem, Señor?“, frage ich, als der spanische Grenzbeamte mit seinem Smartphone meine Flugtickets von Zürich über Madrid nach São Paulo abfotografiert, nachdem er sich zu einer kurzen Beratung mit Kollegen zurückgezogen hat. Es gebe kein Problem. Er wolle nur gerne wissen, welchem Zweck meine Reise diene. „Medida preventiva“, fügt er auf Spanisch hinzu. „So, so, ‚vorbeugende Maßnahme‘ also, denke ich“, stecke Pass und Flugtickets wieder ein, führe lässig zwei Finger der rechten Hand zum äußeren Rand der korrespondierenden Augenbraue und wünsche einen guten Tag.
Fridolin, ein Schweizer Landwirt, der auf dem Flug von Zürich nach Kastilien neben mir gesessen hatte und dessen Ziel ebenfalls Brasilien ist, hat die ganze Zeit auf mich gewartet. „Es gibt kein Problem“, antworte ich ihm auf seine besorgte Nachfrage. „Hat vielleicht damit zu tun, dass ich als Deutscher aus der Schweiz ausgereist bin.“ Das hat es auch, denn sonst hätte dieser Zirkus bereits in Deutschland stattgefunden und die Vorstellung wäre bestimmt etwas länger gegangen. Im Flugzeug hatten wir uns über Gott und die Welt unterhalten, nachdem ich bei einer Stelle in Bruce Chatwins In Patagonien laut und herzlich hatte lachen müssen. Es handelte sich um folgende Passage: „Sie suchen doch nicht etwa einen Job?“ fragte mich Milton Evans. Es war Mittagszeit, und er hielt mir einen Fleischfetzen an der Spitze eines kleinen Spießes entgegen. „Nicht unbedingt.“ „Komisch, Sie erinnern mich an Bobby Dawes. Ein junger Engländer wie Sie, der durch Patagonien gewandert ist. Eines Tages kam er zu einer Estancia und sagte zu dem Besitzer: ‚Wenn Sie mir Arbeit geben, dann sind Sie ein Heiliger, Ihre Frau ist eine Heilige und Ihre Kinder sind Engel, und Ihr Hund ist der beste Hund der Welt.‘ Als der Besitzer antwortete: ‚Ich habe keine Arbeit für Sie‘, sagte Bobby: ‚In diesem Fall sind Sie ein Hurensohn, Ihre Frau ist eine Hure, Ihre Kinder sind Affen, und wenn ich Ihren Hund zu fassen kriege, werde ich ihm in den Arsch treten, bis seine Nase blutet.‘“
In São Paulo gelandet, nahm ich einen Bus nach Campinas und von dort einen weiteren zum Flughafen Viracopos, wo die brasilianische Billigairline Azul ein Luftfahrtdrehkreuz unterhält, denn ich wollte zunächst einmal nach Rio de Janeiro. Nachdem ich am zweiten Tag ein Bild mit dem Zuckerhut im Rücken bei Facebook gepostet hatte, meldete sich mein alter Spieß vom 2. Kavallerieregiment und fragte, ob ich mich gerade in Brasilien aufhielte. Er sei nämlich mit seiner Familie dort und veranstalte an Neujahr ein BBQ in Riviera de São Lourenço, zu dem ich herzlich eingeladen sei. Glücklicherweise hatte ich auf dem Hinweg die Sambakönigin von Campinas kennengelernt, von der ich wusste, dass sie Silvester bei Freunden in São Paulo verbringen würde. Wir handelten einen Deal aus, der vorsah, dass ich ihren Wagen bekäme, um von São Paulo an die Riviera de São Lourenço zu fahren, wenn sie und ihre beiden besten Freunde mitfahren dürften und ich für Sprit und Unterkunft aufkäme. Auch wenn mich auf der langen Busfahrt zwischen Rio und Paulo Zweifel plagten, wurde ich tatsächlich im Morgengrauen von einem SUV abgeholt und wir schafften es pünktlich zum BBQ. Als mich die Brasilianer am nächsten Tag wieder in São Paulo vor meinem Hotel absetzten, wurden sie kreidebleich und fragten, ob ich nicht doch mit ihnen nach Campinas fahren wolle. Ich lehnte dankend ab.
Das Hotel Curitiba war eigentlich gar nicht so schlecht und es hieß nach meinem nächsten Reiseziel, aber das Viertel, in dem es sich befand, war die reinste Gosse. Es roch überall nach menschlichen Exkrementen und den leeren Blicken der Junkies war kaum auszuweichen. Oscar Wilde lässt Lord Darlington in der Komödie Lady Windermere’s Fan erklären, wir lägen alle in der Gosse, doch einige von uns betrachteten die Sterne. Ich für meinen Teil zog es jedenfalls vor, den Sternenhimmel Sternenhimmel sein zu lassen und im Doppelbett des Hotels den Deckenventilator anzuglotzen, statt unten im Rinnstein zu liegen. Das Zimmer kostete umgerechnet zehn Euro pro Nacht, Frühstück inklusive (Butterbrot). Abends gab es einen Teller klein geschnippelte Wurst mit Zwiebeln und Weißbrot. Die Alternative wäre ein Kilogramm Hähnchengeschnetzeltes mit Ketchup gewesen. Mein Fenster befand sich an der Straßenseite und die ganze Nacht hindurch gab es Zänkereien zwischen Obdachlosen, die sich lautstark auf Portugiesisch beschimpften. Außerdem marschierte gefühlt alle paar Minuten jemand mit einem umgehängten Ghettoblaster die Straße hoch oder runter. Man hatte ständig brasilianischen Funk im Ohr. An ununterbrochenen Schlaf war also nicht zu denken.
Am nächsten Morgen wollte ich in die Pinakothek, die sich in unmittelbarer Nähe meines Hotels und direkt gegenüber dem Bahnhof Luz befindet, vor dem stets ein Pulk von Prostituierten anzutreffen ist. Einen Ladyboy, der dort wohl sein hässliches Gesicht ausstellt und seinen Arsch vermietet, sah ich im Hotel Curitiba. Leider war die Pinacoteca do Estado de São Paulo geschlossen, als ich dort anlangte, also machte ich stattdessen einen Spaziergang im Ghetto, wobei ich die Arretierung von drei Gangbangern in Boardshorts und Flip-Flops beobachten konnte. Ich knipste kurz einige Bilder und ging dann zügig weiter, um von der Polizei nicht zum Löschen derselben genötigt zu werden.
Aus einem etwas besseren Viertel kam das Mädchen, das ich an diesem Tag noch in São Paulo kennenlernte. Sie nannte sich Jazz, war 20 Jahre jung und arbeitete als Tätowiererin. Auf der rechten Backe hatte sie einen Anker und die Ziffern 011, die Vorwahl von São Paulo, tätowiert. Wie bei der größten Gruppe der paulistanos, der Einwohner São Paulos, kamen ihre Vorfahren vorwiegend aus Italien. Über uns hing der in die Jahre gekommene, nicht mehr funktionsfähige Deckenventilator, links an der Wand dröhnte ein Gebläse neuerer Bauart und ließ den Bettbezug vibrieren, unter den wir uns verkrochen hatten. Aus meinem Handy schallte eines meiner Lieblingslieder: „Lawyers, Guns and Money“ von Warren Zevon. Es war in diesem Augenblick, dass ich feststellte, wie glücklich ich war. Leider musste sie noch vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein und ich am nächsten Tag in Curitiba.
Meinem alten Freund Newton, einem Deutschbrasilianer, den ich vor Jahren in einem Pub in Rom kennengelernt hatte, schrieb ich von Rio aus, ich würde mich auch nach Unterkünften in seiner Heimatstadt Ponta Grossa umsehen. Darauf antwortete er mir: „Hostels in Ponta Grossa? Meine Fresse, du übernachtest hier, Mensch! Essen und schlafen und was sonst kannst du bei mir!“ Zuerst wollte er mich jedoch seinen Freunden in Curitiba vorstellen und mir eine deutsche Siedlung in der Gegend zeigen. Die Busfahrt von São Paulo war eine Augenweide. Ein einziges grünes Panorama. Urwald wechselt sich mit Bananenplantagen ab und neben den Bananenstauden stehen in Abständen von mehreren Kilometern kleine Häuschen, vor denen Käfer und alte VW-Busse, zuweilen auch amerikanische Pickups, vor sich hin rosten.
Curitiba liegt auf der ersten paranaensischen Hochebene, dem Primeiro Planalto Paranaense. Nähert man sich der auf 934 Metern Höhe gelegenen Großstadt, so wird man zwingend der seltsamen Nadelbäume gewahr, die durch ihre kandelaberförmigen Kronen imponieren und überall aus dem Urwald herausragen. Es handelt sich um Araukarien. Dieser Baum ziert nicht nur das Stadtwappen, sondern auch der heutige Name der 1693 von den Portugiesen gegründeten Stadt leitet sich von den Pinien ab. Er stammt aus den Tupí-Guaraní-Sprachen. Auch wenn die Etymologie nicht abschließend geklärt ist, bedeutet Curitiba sinngemäß „Land mit den vielen Araukarien“ oder einfach „viel Holz“. Curitiba ist die Hauptstadt des drittsüdlichsten brasilianischen Bundesstaates Paraná, der etwa die Größe Frankreichs besitzt und hauptsächlich aus einer gewaltigen Hochfläche besteht, die, teilweise aufgebrochen, allmählich zum namensgebenden Rio Paraná im Westen abfällt. Im Osten erstreckt sich die steil zum Meer abfallende Serra do Mar. Zahlreiche Pioniere aus Italien, Deutschland, Polen, Russland und der Ukraine siedelten im 19. Jahrhundert auf der Hochfläche, nachdem sie sich zunächst in den küstennahen Bereichen niedergelassen hatten. Auch viele deutsche Siedler aus den südlicher gelegenen Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Santa Catarina zog es in die Höhenregion mit dem kälteren Klima.
Abgeholt wurde ich in Curitiba von einem Freund Newtons, der mich auf der Fahrt über die Parteienlandschaft in Europa und die nouvelle droite ausfragte. Nachdem wir uns über das Wahlverhalten von Männern und Frauen in Nordamerika, Deutschland und Brasilien ausgetauscht hatten, räsonierte er mit einem Lächeln über die Frage, ob es tatsächlich klug gewesen sei, den Frauen das Wahlrecht zu geben. Er war ein angenehmer Gesprächspartner, auch wenn sein Englisch nicht das beste war und mein Französisch noch weitaus schlechter als sein Englisch. Bei ihm übernachteten wir auch. Zu dritt fuhren wir tags darauf auf der seit 1873 bestehenden, großartig geführten Estrada da Graciosa zwischen Curitiba und dem Meer über Morretes nach Antonina, wo wir zu Mittag aßen. Die Architektur der Stadt ist von portugiesischem Kolonialstil geprägt, aber in dem Gasthaus, in das wir einkehrten, stand zu unserer Überraschung eine blonde Deutschbrasilianerin hinter der Theke: drall und tüchtig, das Bild einer betagten Bäuerin! Sie freute sich sehr, zwei Deutsche in ihrer Wirtschaft begrüßen zu dürfen und erzählte, dass sie ursprünglich aus Rio Grande do Sul komme und ihre Eltern nur Deutsch mit ihr geredet hätten, obwohl sie schon der vierten Auswanderergeneration angehöre. Sie stellt sich neben unseren Tisch und stützt ihre Hände auf ihre Hüften: „Ich sage immer: Die Leute in Antonina wollen nicht arbeiten. Sie sind faul. Kam ich hierher vor 20 Jahren, hatte ich nichts. Nur einen Sohn. Jetzt habe ich zwei Restaurants, ein gutes Auto und ein scheenes Apartament.“
Abends stiegen Newton und ich in einen Bus und irgendwo im Nirgendwo zwischen Curitiba und Ponta Grossa wieder aus. Rubens, ein Freund Newtons, holte uns nach einer Weile mit seinem Pickup vom Grünstreifen und fuhr uns zu einer von deutschen Mennoniten bewohnten Siedlung. Es war zwar ein Wochentag, aber in der kleinen Kneipe des Ortes wartete man schon auf den Gast aus Deutschland und jede der zahlreichen Heineken-Dosen, die wir hinunterkippten, ging aufs Haus. Angehörige des brasilianischen Fanklubs der Böhsen Onkelz hatten sich in der Hütte versammelt und so tranken wir also „auf gute Freunde, verlorene Liebe, auf alte Götter und auf neue Ziele“ – und natürlich, mit ein paar Tagen Verspätung, auch „auf ein neues Jahr!“ Diese Mennoniten waren wahrscheinlich die lebenslustigsten Protestanten, die mir je begegnet sind. Nachdem Newton und ich bei Rubens übernachtet hatten, machten wir morgens zunächst einen ausgedehnten Spaziergang in der Kolonie. Das Wetter schlug alle paar Minuten um. Erst sticht der Planet und man fürchtet, einen Sonnenbrand zu bekommen, im nächsten Augenblick regnet es – und dazwischen pfeift manchmal der Wind. In der colônia haben über 84 Prozent der Einwohner für Bolsonaro gestimmt und am Ortseingang findet sich ein großes Schild, auf dem die Gemeinde ihren Dank zum Ausdruck bringt: Por deus, por nossas famílias, por quem produz, also für Gott, für unsere Familien und für diejenigen, die produzieren, steht darauf in großen Lettern neben dem Konterfei des Präsidenten.Mittags fuhr Rubens uns nach Ponta Grossa, und aus den Boxen seines VW-Pickups dröhnte Musik der britischen Kultband Status quo. Wir aßen gemeinsam alcatra in einer traditionellen churrascaria der hauptsächlich von Italienern, Polen und Wolgadeutschen geprägten Stadt. Das saftige Rindfleisch wird einem an Spießen gereicht, und ständig fragt der Kellner: „Noch ein Stück, Dr.?“ Zuweilen wird man sogar zum „Professor“ gemacht.
Newton und ich besuchten an diesem Tag noch die in der Nähe befindlichen niederländischen Siedlungen Castrolanda und Carambeí, die aufgrund der Tüchtigkeit der Holländer zu Hochburgen der Milchproduktion geworden sind. So kam auch der Joghurt, den ich auf dem Rückflug nach Deutschland in einem Flugzeug der Airline LATAM aß, aus einer Fabrik in der Avenida dos Pioneiros in Carambeí. Tags darauf ging es in Newtons altem FIAT, der stotterte und japste, bis hinauf auf den mehrere Autostunden entfernten „Hochkamp“, der von den Donauschwaben für eine intensive Feldnutzung urbar gemacht worden ist und heute eine Kornkammer des Landes darstellt. Auf fünf Dörfer verteilen sich die „Schwobisch“ sprechenden Deutschen und ihre meist nordbrasilianischen Erntehelfer in Entre Rios. Auf dem Weg nach Entre Rios waren wir durch die Stadt Prudentópolis gekommen und hatten dort zu Mittag gegessen. Für das Buffet, zu dem es auch quirera, eine Art Brei, gab, mussten wir nur 14 reais bezahlen, umgerechnet 2,30 Euro. Die etwa 50.000 Einwohner der Stadt stammen zum größten Teil aus der Ukraine. Im Jahr 1896 kamen die ersten 8.000 Siedler aus der Ukraine und der Zuzug von Landsleuten hielt bis in die 1920er Jahre an. Zuhause spricht man in Prudentópolis Ukrainisch und die orthodoxen oder griechisch-katholischen Kirchen der Stadt vermitteln einem trotz der Hitze das Gefühl, man befinde sich irgendwo zwischen Lemberg und Kiew.
Es gefiel uns in Prudentópolis so gut, dass wir beschlossen, auf dem Rückweg dort für die Nacht in einem Hotel abzusteigen. Beim Supermarkt kauften wir uns Zahnbürsten und Zahnpasta sowie eine Flasche Wasser. Die hübschen Kassiererinnen fragten wir, wo in der Stadt der Bär steppe. Sie empfahlen uns Tuba’s Bar, und als ich mich danach erkundigte, ob sie uns begleiten wollten, sagten sie mit einem schüchternen Lächeln und starkem ukrainischem Akzent, wie mir Newton versicherte: „Nóis não póde.“ Das ist grammatikalisch falsch und soll heißen: „Wir können nicht.“ Dabei streckten sie uns ihre Handrücken entgegen, um uns auf die Eheringe aufmerksam zu machen. Wir mieteten uns für eine Nacht im Burack Hotel ein und hätten in der Pizzeria nebenan gerne eine Pizza gegessen. Pizza gab es nicht. Ich fragte ungläubig nach, ob es denn wenigstens Pasta gebe. Die beiden Kellnerinnen und die Gastronomin schüttelten den Kopf. „Pierogi?“ Wieder schüttelten sie erst den Kopf, dann sagte die Wirtin allerdings: „Doch, Piroggen können wir machen? Wollt ihr jeder zwölf oder sechs Stück“. „Sechs“ sagte ich und blickte in ein trauriges Gesicht. „Dann gerne zwölf, kein Problem“, verbessere ich mich. Die alte Frau nickt strahlend und scheucht ihre Angestellten in die Küche. Es dauert eine ganze Weile, aber dann werden die leckeren Piroggen in Hackfleischsoße aufgetischt. Wahrscheinlich haben sie die Zutaten erst im Supermarkt kaufen müssen. Nach dem Abendessen geht es auf zwei Bierchen in Tuba’s Bar. Das Bier kommt aus einer Brauerei in Blumenau im Bundesstaat Santa Catarina und trägt den Namen „Eisenbahn“.
Nachdem wir am nächsten Morgen ausgecheckt und fürstlich gefrühstückt haben, geht es zurück nach Ponta Grossa und dann mit dem Bus wieder nach Curitiba, wo mich ein Lokalpolitiker und Parteigänger Bolsonaros interviewen möchte. Newtons Freund hatte dem Mann erzählt, dass sich ein Anti-Globalist aus Deutschland in Paraná befände. Vier- oder fünfmal müssen wir das Interview von vorne beginnen, weil mein Gesprächspartner mich entweder als Ianonis Krapf vorstellt oder zum Chef-Redakteur von COMPACT befördert. Ich bin froh, als die Bilder im Kasten sind. Wenige Stunden später sitze ich im Nachtbus nach São Paulo. Natürlich lande ich wieder mitten im Ghetto. Dieses Mal ist es wohl das Schwarzenviertel der Stadt, denn auf der Straße vor dem Hotel Natal, in dem ich es mir gemütlich gemacht habe, stehen fünfzig oder sechzig Westafrikaner wie bei einer Versammlung. Manche von ihnen grillen auf der Fahrbahn.
Abends kehre ich eine Straße weiter in eine zum Gehsteig hin offene Lunch-Bude ein, in der sich mir gegenüber am Tresen schon zwei kuriose Gestalten das Abendessen einverleiben. Einer der beiden ist ausgesprochen hager, trägt eine Augenklappe und hat ein langes, beinahe bananenförmiges Gesicht, der andere ist ein rotbrauner Mestize mit verwegenen Gesichtszügen. Um den kräftigen Hals trägt er eine dicke Kette aus Edelmetall. Am Handgelenk funkelt eine goldene Armbanduhr und am Ringfinger der rechten Hand steckt ein auffälliger Siegelring. Auf dem Kopf trägt er nach Art der Korsaren ein Tuch. Nachdem ich mit Händen und Füßen bestellt habe, sehe ich vor dem Imbiss einen Schutzmann mit gezogener Waffe vorbeischleichen. Keine zwei Minuten später läuft derselbe Polizist in entgegengesetzter Richtung an mir vorbei und treibt unter vorgehaltener Waffe einen bronzefarbenen Delinquenten vor sich her. Den Hals des mutmaßlichen Verbrechers ziert eine Tätowierung in Form eines Dollar-Zeichens. Ich ziehe unter dem Tresen die 20 reais aus der Socke und bezahle meinen Cheeseburger. Im Hotelzimmer wartet dieses Mal nur eine Kakerlake, die sich schnell unter dem Bett verkriecht. Ich spiele mit dem Gedanken, sie umzubringen, aber in einer pazifistischen Regung vergesse ich die Mordgelüste, lasse mich aufs Bett fallen und schlafe ein.
Allerdings hilft all der Pazifismus nichts, denn als ich einige Tage später über Brasília wieder nach Deutschland zurückfliege, werde ich bei der Einreise behandelt wie ein Terrorist. Als ich am Frankfurter Flughafen aus der Maschine steige, sehe ich, wie ein Beamter seine Kollegen mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf mich hinweist. Ich habe in diesem Augenblick schon das unbestimmte Gefühl, dass sich das Mittagessen, das gleichzeitig mein Abendessen sein wird, etwas nach hinten verschiebt. Kaum hält der Polizist meinen Pass in Händen, gibt er diesen Umstand über Funk weiter. Dann höre ich den mir bereits vertrauten Befehl: „Kommen Sie einmal kurz mit auf die Wache“ und weiß sogleich, dass es sich bei dem Wörtchen „kurz“ um einen Euphemismus handelt.
Ich bin bis in die Zehenspitzen tiefenentspannt und folge den drei Bundespolizisten, ohne zu protestieren. Allerdings frage ich eher rhetorisch: „Was gibt’s denn nun schon wieder?“ „Das klärt sich auf der Wache“, kommt es zurück. Eine Sache brennt mir doch noch unter den Nägeln: „War dieses Empfangskomitee nur für mich?“ „Die anderen Jungs nicht, nur wir drei“, entgegnet mir einer der Beamten. Es ist dem Polizisten, der mein Gepäck durchwühlt und mich schon von meiner letzten Reise kennt, sichtlich unangenehm, mich erneut grundlos einer so eingehenden Untersuchung unterziehen zu müssen. Die Bilder auf der mitgeführten Kamera sollen gesichtet werden. Von mir aus. Ich beginne, zu jedem Bild, das ich in Brasília von Sehenswürdigkeiten geschossen habe, eine ausführliche Erläuterung zu geben, sodass man es nach kurzer Zeit gut sein lässt und mir gestattet, die Kamera wieder auszuschalten und zu verwahren. Nun folgt die Leibesvisitation. Ich werde von drei Bundespolizisten die langen Gänge entlanggeführt, wobei sie vor jeder Türe das Wort „Durchgang!“ rufen. Vor einem kahlen, weiß gefliesten Raum bleiben wir stehen. Ich muss mich nackt ausziehen und einmal im Kreis drehen. Danach haben vier Beamte in Zivil noch einige Fragen zu meiner Person und den Beweggründen für meine Reise. Zwei Stunden dauert das ganze Prozedere, dann bin ich wieder auf freiem Fuß.
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